Die heiße Luft von Kreuth
Matthias Micus glaubt nicht daran, dass sich die CSU trotz zum Teil großer Differenzen von der CDU lösen wird
Horst Seehofer, darin sind sich die Kommentatoren weitestgehend einig, hat sich im Anschluss an die Rede der Bundeskanzlerin auf dem Münchner Parteitag der CSU am vergangenen Samstag ungehörig verhalten. Von einem Affront war hernach die Rede - und natürlich auch, diese Metapher liegt bei christlichen Parteien nahe, von Merkels Gang nach Canossa. Sogar der »Geist von Kreuth« spukte wieder durch manche Redaktionsstube.
In Wildbad Kreuth hatten sich die Mitglieder der CSU-Landesgruppe, also die christsozialen Abgeordneten im Deutschen Bundestag, auf ihrer Klausurtagung im November 1976 dafür ausgesprochen, die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU aufzukündigen. Als zentrales Motiv dieses Beschlusses wird bis heute die Überlegung hervorgehoben, durch eine Trennung beider Fraktionsteile noch erfolgreicher all jene hinter den Unionsfahnen zu versammeln, die der damaligen Bundesregierung aus SPD und FDP kritisch gegenüberstanden. Insbesondere sollten die CSU-Abgeordneten unverwässerter konservative Positionen vertreten und damit das rechts-konservative Wählerspektrum effektiver ansprechen können.
Eben dieses Meinungssegment rückt aktuell wieder stärker in den Fokus, nachdem es jahrelang tot geglaubt worden war. Infolge des Flüchtlingszustroms erleben konservative Sehnsuchtsorte wie die Heimat, die Nation und das christliche Abendland eine vor kurzem noch schwerlich für möglich gehaltene Renaissance. Zuvor schon haben in der jüngeren Vergangenheit zahlreiche Studien eine gewisse Konjunktur für Versatzstücke herkömmlich als konservativ klassifizierter Mentalitäten festgestellt. Gute Manieren, so hieß es wiederholt, seien gerade für die Jüngeren wichtig, ebenso Höflichkeit - von stabil mehrheitlich geäußerten lebenslangen Bindungswünschen ganz abgesehen. In Politik und Parteien freilich schlug sich dergleichen nicht nieder, eher im Gegenteil. Während sich die CDU - und im Verbund mit ihr die CSU - in der Ära Merkel in Wirtschaftsfragen sozialdemokratisierte und gesellschaftspolitisch liberalisierte, verpufften Initiativen zur Sammlung der Restkonservativen folgenlos. Jetzt aber, im Jahr 2015, scheint der Konservatismus auch politisch wieder relevant zu werden.
Insofern spricht einiges dafür, sich der Straußschen Maxime, der zufolge es rechts von der CSU keine demokratisch legitimierte Partei geben darf, zu erinnern und über den Sinn einer lose verkoppelten Arbeitsteilung zwischen den beiden Unionsparteien nachzudenken. Die CDU könnte dann das Spektrum der Mitte im Grenzbereich zu SPD und Grünen abdecken, die CSU die potenzielle Klientel rechtspopulistischer Parteien binden, deren erheblicher Umfang bei einem Blick in europäische Nachbarländer deutlich wird.
Dennoch brauchen sich die CDU und Angela Merkel über eine Abspaltung der Schwesterpartei und ein Wiederaufleben des mit dem »Geist von Kreuth« verbundenen Konzeptes einer »Vierten Partei« keine ernsthaften Gedanken zu machen. Erstens gibt es mit den Grünen und der LINKEN längst schon eine vierte und sogar eine fünfte Partei. Zweitens ist die CSU seit der deutschen Wiedervereinigung im Verhältnis zur CDU deutlich geschwächt, ihr Beitrag zum Gesamtstimmenergebnis der Unionsparteien bei Bundestagswahlen von über zehn Prozent 1976 auf 7,4 Prozent 2013 gefallen. Drittens ist Merkel viel gefestigter als ihr Vorvorgänger seinerzeit. Helmut Kohl stand 1976 am Anfang seiner bundespolitischen Karriere, galt als täppisch, provinziell und schwach. Gegen Merkel, kurzum, wird die CSU einen folgenreichen Aufstand nicht wagen. Viertens reicht Seehofer, ebenso wenig wie die anderen Nachfolger von Strauß - weder im Guten noch im Schlechten - an Kohls Kontrahenten von 1976 heran. Fünftens besteht mit der AfD bereits die rechts-konservative Alternative zur CDU. Die CSU wirkt im Vergleich dazu blass, zumal angesichts der Tatsache, dass sie die Linksschwenks Merkels seit 2005 mitgetragen hat. Und schließlich ist trotz unvergleichbar günstigerer Umstände auch »Kreuth« seinerzeit binnen kurzem gescheitert, entpuppte sich schon damals der vielbeschworene Geist als nicht viel mehr denn heiße Luft.
Das alles heißt nicht, dass eine organisatorische Auffächerung des bürgerlichen Parteienlagers elektoral nicht durchaus sinnvoll wäre. Die kumulierten Stimmenanteile von SPD, Grünen und LINKEN seit 1998 zeigen das. Bloß muss man dann auch miteinander koalieren wollen.
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