»Wir können den Kapitalismus untergraben«
Der US-amerikanische Soziologe Erik Olin Wright über Realutopien, das Richtige im Falschen und die Chancen auf einen demokratischen Sozialismus
Herr Wright, seit über 20 Jahren denken Sie über Realutopien nach. Real und Utopie - ist das kein Widerspruch? Was meinen Sie mit dem Begriff Realutopien?
Das Word »Utopie« wurde 1516 von Thomas Morus erdacht. Er kombinierte im »U« zwei altgriechische Präfixe: »eu«, das »gut« und »ou«, das »nicht« bedeutet. Diese Zusammensetzung verband Morus mit dem Wort »Topos«, das »Ort« heißt. Utopie ist folglich der gute Ort, der an keiner Stelle existiert. Er ist eine Fantasie der Perfektion. Wie kann sie dann aber »real« sein? Es mag realistisch sein, Verbesserungen in der Welt anzustreben, aber doch keine Perfektion. Tatsächlich kann die Suche nach Perfektion sogar die Aufgabe, aus der Welt einen besseren Ort zu machen, unterminieren. Das bringt der Aphorismus »Das Beste ist der größte Feind des Guten« zum Ausdruck. Folglich existiert eine innere Spannung zwischen dem Realen und dem Utopischen. Es ist genau diese Spannung, die die Idee der »Realutopie« einfangen möchte. Der Punkt ist folgender: Unser tief verwurzeltes Streben nach einer nicht existenten gerechten Welt soll erhalten bleiben, während wir uns an der praktischen Aufgabe beteiligen, reale Alternativen zur derzeitigen Welt aufzubauen.
Was ist der Unterschied zwischen Ihren »Realutopien« und der Utopie von Thomas Morus oder den so genannten utopischen Sozialisten wie Robert Owen oder Charles Fourier?
Der entscheidende Unterschied zu Thomas Morus ist der Fokus auf die Implementierung der Veränderung in der jetzigen Welt. Das weist voraus auf eine emanzipatorische Alternative. Der Unterschied zu den utopischen Sozialisten des 19. Jahrhunderts liegt in der Bewertung der Rolle des Staates. Dieser kann helfen, die Bedingungen für eine Alternative zu schaffen.
Erik Olin Wright ist ein US-amerikanischer Soziologe und Professor an der University of Wisconsin. 2010 wurde der heute 68-Jährige zum 103. Präsidenten der American Sociological Association gewählt. Er gilt als Vertreter des sogenannten Analytischen Marxismus. 2010 veröffentlichte er das Buch »Envisioning Real Utopias«, das 2016 bei Suhrkamp in deutscher Übersetzung erscheinen wird. Für Februar ist zudem das Buch »Alternativen zum Kapitalismus. Vorschläge für eine demokratische Ökonomie« von Wright und Robin Hahnel im Bertz & Fischer Verlag angekündigt. Wright forscht zur Klassentheorie und seit 1991 zum »Real Utopias Project«. Guido Speckmann sprach mit ihm über seinen Utopie-Begriff.
Sie nennen in Ihrem Buch realutopische Beispiele: Wikipedia, der Beteiligungshaushalt von Porto Alegre, öffentliche Bibliotheken und das bedingungslose Grundeinkommen. Unterschätzen Sie nicht die Gefahr, dass diese Nischenprojekte in das System integriert werden?
Das ist sogar mehr als nur eine Gefahr. Es ist auf eine ironische Art sogar notwendig: Nur wenn anti-systemische Alternativen in das real existierende System »integriert« werden können, haben sie eine Chance, sich auch wirklich zu entwickeln - und so eine zersetzende Wirkung auf das System ausüben zu können. Das ist ein elementarer Baustein für die Theoretisierung einer langfristigen Perspektive zur Untergrabung des Kapitalismus. Die realutopischen Initiativen, die anti-kapitalistische Werte enthalten, müssen ebenso Probleme innerhalb des Kapitalismus lösen, um lebensfähig zu sein. Das ist ein Widerspruch in sich, aber das bedeutet nicht, dass es nicht auch eine durchführbare Transformationsstrategie ist.
Was ist für Sie Sozialismus und warum argumentieren Sie gegen eine schlichte Gegenüberstellung von Sozialismus und Kapitalismus?
Sozialismus ist eine Ökonomie, in der die Werte der Demokratie, Gleichheit und Solidarität erfolgreich in ihren zentralen Institutionen verwirklicht sind. In erster Linie bedeutet Sozialismus eine tief gehende, überall vorhandene ökonomische Demokratie. Es ist nicht so, dass ich gegen eine Konfrontation von Kapitalismus und Sozialismus argumentiere. Immerhin sind dies ökonomische Strukturen, die auf gegensätzlichen Werten beruhen. Ich wende mich eher gegen die Möglichkeit einer abrupten Transformation von einer kapitalistisch dominierten Wirtschaftsweise in eine sozialistisch geprägte.
In »Envisioning Real Utopias« wollen Sie eine Theorie dieser sozialistischen Transformation entwerfen. Was sind Ihre wichtigsten Aspekte?
Die zentrale Idee ist: Alle sozio-ökonomischen Systeme sind komplexe Mischungen von verschiedenen ökonomischen Strukturen, Verhältnissen und Aktivitäten. Keine Wirtschaft war jemals - oder kann es je sein - purer Kapitalismus. Die kapitalistische Produktionsweise hat drei entscheidende Komponenten: Privateigentum an Kapital, Produktion für den Markt, um Profit zu erwirtschaften, sowie die Beschäftigung von Arbeitern, die keine Produktionsmittel besitzen. Die existierenden wirtschaftlichen Systeme kombinieren Kapitalismus mit einer Vielzahl anderer Arten, die Produktion und Distribution von Waren und Dienstleistungen zu organisieren: durch den Staat, innerhalb familiärer Beziehungen, durch Gemeinschaftsnetzwerke, durch Kooperativen, die von ihren Mitgliedern besessen und demokratisch verwaltet werden, durch Non-Profit-Organisationen sowie durch in gemeinschaftlich organisierte Produktionsprozesse involvierte peer-to-peer-Netzwerke etc. Einige dieser wirtschaftlichen Organisationsweisen können als Hybride verstanden werden, die kapitalistische und nicht-kapitalistische Elemente kombinieren.
Was heißt das?
Einige Organisationsweisen sind vollständig nicht-kapitalistisch, andere anti-kapitalistisch. Wir nennen diese komplexen Wirtschaftssysteme kapitalistisch, wenn das kapitalistische Element dominiert und es die wirtschaftlichen Lebensbedingungen der meisten Menschen prägt. Diese Dominanz ist ungeheuer gefährlich. Ein Weg, den Kapitalismus in Frage zu stellen, ist es, mehr demokratische, egalitäre und partizipatorische wirtschaftliche Beziehungen in der Öffentlichkeit zu fördern, diese auszuweiten und gegen Widerstände zu verteidigen. Und mit dem System, wo immer es möglich ist, zu brechen. Die Aussicht auf einen Sozialismus, verstanden als eine nach den Prinzipien von Demokratie, Gleichheit und Solidarität organisierte Wirtschaft, hängt von der Wahrscheinlichkeit ab, den Spielraum und die Tiefe dieser antikapitalistischen Verhältnisse innerhalb des Kapitalismus bis zu dem Punkt auszuweiten, an dem der Kapitalismus aus seiner dominanten Position gedrängt wird. Dies kann als eine Strategie verstanden werden, den Kapitalismus zu untergraben. Im Kern ist dies ein Kampf für Demokratie.
Welche Rolle kommt dabei der ökologischen Frage zu?
Die ökologische Herausforderung wird im Verlauf der nächsten Jahrzehnte das Ende der neoliberalen Ära markieren. Es ist schlicht nicht vorstellbar, dass der Markt eine Lösung für die Anpassung an die sich wandelnden Umweltbedingungen hervorbringen wird, von der Abschwächung des Treibhauseffektes im Zuge der globalen Erderwärmung ganz zu schweigen. Das gigantische Ausmaß der notwendigen öffentlichen Arbeit, allein um mit den Folgen des Klimawandels fertig zu werden, wird die Chance auf neue staatliche Förderungsmaßnahmen erhöhen. Diese werden öffentliche Güter und soziale Gerechtigkeit fördern müssen. Und das wiederum wird die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass realutopische Projekte entstehen und verteidigt werden können.
Sie schreiben in Ihrem Buch: »Der Kapitalismus wird für die absehbare Zukunft so oder so überleben.« Ist das utopisches Denken?
Ich bin mir nicht sicher, warum die empirische Vorhersage, dass der Kapitalismus für die absehbare Zeit überleben wird, als ein Beispiel für »utopisches Denken« gelten sollte. Gemeint ist die Aussage als eine wissenschaftliche Annahme über das Reproduktionsvermögen dieser spezifischen Wirtschaftsweise und über die Machtverhältnisse. Hinzu kommt eine Diagnose darüber, was notwendig wäre, die kapitalistischen Verhältnisse von Grund auf zu überwinden. Deshalb stellt sich für Sozialisten das politische Problem wie folgt: Welche Strategie verfolgen wir, die glaubhaft die Aussicht auf eine Ersetzung der dominierenden kapitalistischen Strukturen erhöht?
Es gibt Kritik, dass Ihr Buch weniger eine sozialistische Transformation skizziert und vielmehr eine »Theorie der Erhöhung der Transformationsfähigkeit der gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaften hin zu mehr Gerechtigkeit und Demokratie« (André Brie) ist.
Ich denke, dass die Bewegung hin zu mehr Gerechtigkeit und Demokratie sehr wohl eine Theorie ist, die uns zum Sozialismus führt. Es mag zwar keine Theorie sein, die uns den Weg zum Ziel an sich weist, aber wenigstens ist es eine Theorie, die in die richtige Richtung geht. Ich bin der Ansicht, dass ist das Beste, was wir tun können. Und mit Sicherheit ist es das Beste, was ich tun kann.
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