Olivgrün im roten Bereich?
Der nächste NATO-Gipfel in Warschau wirft seine Schatten voraus: Trommeln für mehr Soldaten, Ausrüstung und sogar die Auffrischung der Wehrpflicht
»Wir sind absolut im roten Bereich und es ist wichtig, dass die Ministerin, das Parlament jetzt nachsteuert«, sagte der Vorsitzenden des Bundeswehrverbands André Wüstner in einem ausgiebigen Deutschlandfunk-Interview. 5000 bis 10 000 Soldatinnen und Soldaten brauche man zusätzlich, »um weiterführende Anforderungen« zu erfüllen.
Auch der Wehrbeauftragte des Bundestags, Hans-Peter Bartels (SPD), sieht die Bundeswehr »seit 25 Jahren personell im freien Fall«. Von einst 600 000 Soldatinnen und Soldaten vor der Vereinigung seien 178 000 geblieben. Bartels plädiert für eine Verstärkung in einer ähnlichen Größenordnung wie Wüstner. Wie der fordert auch Bartels mehr Geld. Die Steigerung von 33 Milliarden auf 35 Milliarden Euro reiche nicht aus, angesichts der guten wirtschaftlichen Entwicklung falle der Anteil der Militärausgaben am Bruttoinlandsprodukt von 1,16 Prozent 2015 auf 1,07 Prozent im Jahr 2019. Das, so Bartels, sei weit weg von der Zwei-Prozent-Marke, die die NATO als Ziel setzt.
Am Montag setzte der Historiker Michael Wolffsohn noch einen drauf, als er die Wiedereinführung der Wehrpflicht für denkbar hielt. Der Professor, der bis 2012 an der Bundeswehr-Universität in München lehrte, meinte: Man brauche einfach mehr Leute, schon wegen der gewachsenen Infrastruktur. Einsätze müssten vorbereitet werden. »Ein Soldat zieht nicht einfach los, wie das mal früher der Fall war, nimmt seinen Tornister und dann peng, bumm, ab ...«
Kein Zweifel, es wird getrommelt für mehr Tornisterträger. Und man wird sie demnächst auch bekommen. Doch zum Thema Wehrpflicht hört man bei der Generalität nur: Nein, danke! Auch bevor die aktuelle Werbekampagne mit 30 000 Plakaten, fünf Millionen Postkarten und diversen TV-Spots einsetzte, hatte nicht einmal das Heer Nachwuchssorgen. Dort ist man sehr zufrieden, nun eine planbare, professionelle Truppe aus Berufs- und Zeitsoldaten zu haben. Durchschnittlich achteinhalb Jahre verpflichten sich Heeressoldaten. Das ist viel Zeit, um perfekte Soldaten zu formen. Man wird demnächst sogar in der Lage sein, die EU-Arbeitszeitrichtlinie umzusetzen. 40 Stunden pro Woche, dann ist Zeit für die Familie vorgesehen. Gelingt das beispielsweise wegen der Auslandseinsätze nicht, wird später entsprechender Ausgleich geschaffen.
Auch die aktuellen Einsatzzahlen sprechen nicht für den personellen Katastrophenfall. Es gab Zeiten, da waren allein in Afghanistan 5000 Mann eingesetzt. Gut 3000 Soldatinnen und Soldaten sind derzeit in Auslandseinsätzen gebunden. Gerade einmal 700 Mann davon stellt das Heer. Doppelt so viele setzt man bei der Flüchtlingshilfe ein - ohne dass alles zusammenbrach.
Insgesamt, so meint Heeresinspekteur Generalleutnant Jörg Vollmer, stehe sein e Truppe »gut da« - hinsichtlich der Struktur und des Personals. Allerdings, so betont auch Vollmer, »erfordern Landes- und Bündnisverteidigung ein Umdenken«. Er fordert Verbände in Divisionsstärke, die bereits im Frieden über das gesamte Gerät verfügen, welches sie zur Erfüllung eines Auftrages benötigen. Der ist seit der sogenannten Ukraine-Krise vor allem an der Ostflanke zu erledigen. In jährlich unterschiedlichen Bereitschaftsgraden - 45, 7 oder 30 Tage - müssen gemeldete Bundeswehr-Brigaden als »Schnelle Speerspitze« der NATO einsatzfähig sein. 2015 stellte allein das Heer 4700 Soldaten für Maßnahmen ab, die die westliche Allianz Richtung Russland in Gang setzte. Der nächste NATO-Gipfel, der im Juli in Warschau stattfinden soll, wird den Auf- und Umrüstungsrüstungskurs der Allianz noch verstärken. Die aktuelle Personaltrommelei ist ein Anfang.
Doch mehr Soldaten sind nicht die Lösung. Die Generalität will angesichts des »sicherheitspolitischen Paradigmenwechsels« rasch »dauerhaft luftbewegliche und gepanzerte Verbände«. Also neues Material. Daran mangelt es, seitdem man die Beschaffung allzu lange nur auf den Afghanistan-Einsatz fokussierte. Was dann noch fehlt, ersetzt man durch Kooperation mit anderen Nationen. Die Zusammenarbeit mit den Niederlanden dient da als Blaupause.
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