Ein Politikwechsel ist unverzichtbar

Kann auch in Deutschland die neoliberale Hegemonie aufgebrochen werden? Zwei Aspekte einer Idee der Zukunft

  • Joachim Bischoff
  • Lesedauer: 16 Min.

Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi kritisiert die Hegemonie Deutschlands in der EU. In einem Interview mit der »Financial Times« vom 22.12.2015 warf der italienische Sozialdemokrat Bundeskanzlerin Angela Merkel eine falsche Wirtschaftspolitik und doppelte Standards in der Energie- und Flüchtlingspolitik vor.

Vor allem forderte er eine Abkehr von einer Sparpolitik in Europa. »All die, die treue Anhänger dieser strikten Politik ohne Wachstum waren, haben ihren Job verloren«.[1] Als Beleg führt Renzi die Wahlen in Polen, Griechenland, Portugal und Spanien an. Seine Schlussfolgerung: »Europa hat allen 28 Ländern zu dienen, nicht nur einem.« Die von der deutschen Bundeskanzlerin durchgesetzte Sparpolitik begünstige vor allem die Populisten.

Auch in Deutschland selbst ist es seit den Bundestagswahlen zu einer merklichen Irritation in der Bewertung der Hegemonialposition der Unionsparteien und der Bundeskanzlerin gekommen.

Eine Mehrheit der Bundesbürger (57%) schätzt die politische Lage in der Welt zum Jahresende 2015 als »sehr bedrohlich« oder »bedrohlich« ein. Vor diesem Hintergrund ist es vor allem die Flüchtlingspolitik, die die Zustimmungswerte für die Mehrheitspartei und die Kanzlerin – mindestens zeitweilig – unterlaufen haben. Im Vergleich zu Anfang November hat sich die Haltung der Bürger zur Flüchtlingspolitik der Kanzlerin um drei Prozentpunkte verbessert.

Wiederum 57% finden die Flüchtlings- und Asylpolitik der Kanzlerin nicht zufriedenstellend (»wenig zufrieden« = 33% oder »gar nicht zufrieden« = 24%). In der Frage nach den Wahlchancen kommt die Union auf 38% der Stimmen. Die SPD gewinnt von dieser Eintrübung nicht und bleibt bei 24% hängen, die Grünen und die AfD kommen jeweils auf 10% und die LINKE auf 8%.

Hegemonialstellung von Union und Kanzlerin wackelt

Diese innenpolitische Eintrübung der Hegemonialstellung von Union und Kanzlerin ist bemerkenswert, weil seit den Bundestagswahlen die politischen Verhältnisse bemerkenswert stabil waren. Der Wunsch nach Stabilität und Besitzstandswahrung ist seither übergreifend und einte die politischen »Lager«. Die große Mehrheit der Wähler war stolz oder dankbar, dass Deutschland bislang der Krise trotzen konnte. Das Schreckgespenst lauerte vor den Grenzen, es sollte so lange wie möglich gebannt und in Schach gehalten werden.

Noch in einer Vorwahlanalyse Anfang September 2013 notierte das rheingold Institut, dass das Land nicht mehr von »abstrakten und globalen Finanztransaktionen bedroht sei, sondern durch konkrete Umstände im unmittelbaren Lebensumfeld, gegen die man direkt angehen kann. ›Zuwanderer, die in unser Land kommen, die wissen, wo das Geld liegt und ziehen es uns aus den Taschen.‹«[2]

Mit dem Strom der Flüchtlinge ging diese Konstellation zu Ende. In einem Interview mit der Huffington Post vom 8.12.2015 bringt der Chef des rheingold Instituts, Stephan Grünewald, die Veränderung auf den Punkt: Die Zeit paradiesischer Unbeschwertheit ist vorbei. »Gerade diejenigen, die erleben, wie die Mitte erodiert, verlieren die Perspektive für die Zukunft. Das führt zu Verbitterung. Gleichzeitig beobachte ich … eine heimliche Sehnsucht, aus der multioptionalen Beliebigkeit wieder in eine Welt mit klarer Ordnung einzutreten.«[3]

Kein Politiker verkörperte in den zurückliegenden Jahren das Versprechen von Schutz, Konstanz und Zeitlosigkeit stärker als Angela Merkel. Die vorherrschende Auffassung lautete: »Die CDU lebt und fällt mit der Merkel. Sie ist so dominant, lässt andere nicht hochkommen und es traut sich kaum einer was zu sagen.«[4] Bereitwillig verharrten auch viele SPD-Wähler in einer dumpf-wohligen Passivität.

Ratlosigkeit und Unzufriedenheit in der SPD

In der SPD herrscht über diese anhaltende Stimmung große Ratlosigkeit und Unzufriedenheit, weil es derzeit so aussieht, als müsste erst ein Erdbeben in der deutschen Parteienlandschaft stattfinden, um die Sozialdemokraten wieder auf Werte über 30% und damit in die Nähe von Regierungsübernahme zu bringen. Der SPD und ihrer europäischen Parteienfamilie gelingt es weder bei der Frage der neoliberalen Spar- und Verteilungspolitik noch beim undankbaren Thema Flüchtlinge, mit neuen Ideen und überzeugenden Alternativen auf die Sorgen der Bürger zu reagieren. Es bleibt es bei der politischen Subalternität ohne Machtperspektive.

Völlig abgehoben und weltfremd proklamierte der Parteivorsitzende Sigmar Gabriel vor dem Berliner Parteitag in einem Interview mit der Märkischen Allgemeinen speziell die deutsche Sozialdemokratie als Bollwerk gegen die Rechtsentwicklung: »Dagegen kämpfen wir Sozialdemokraten seit 152 Jahren. Nationalismus, Fremdenhass und Radikalismus dürfen keinen Platz in unserer Gesellschaft haben. Rechtsextreme sind nicht nur in Frankreich auf dem Vormarsch. Auch die AfD ist eine rechtsradikale Partei. Unsere Aufgabe ist es, mit allen Kräften den Zusammenhalt und die soziale Gerechtigkeit im Land zu stärken. Wir müssen die Ängste ernst nehmen. Das kann keine andere Partei besser als die SPD.«[5] Diese herausragende Rolle der deutschen und europäischen Sozialdemokratie existiert allerdings nur in Gabriels Fiktion.

Europaweit sind wir mit einem Aufstieg der Rechtspopulisten konfrontiert.[6] Die Parteien des bürgerlichen Lagers und der europäischen Sozialdemokratie, die überall die politischen Strukturen geprägt haben, sind gelähmt. Die Symptome sind eindeutig: konzeptionelle Schwäche, wachsende Hilflosigkeit bei der Mängelverwaltung und ein wachsendes Amalgam von Bereicherungstrieb sowie offenkundiger Korruption. Die Parteiapparate erweisen sich als geschlossene Systeme mit verbrauchten Figuren, die angesichts wachsender sozialer Spaltungen den Kontakt mit der gesellschaftlichen Basis verlieren. Beide Parteienfamilien haben keine überzeugenden Antworten auf das schwächelnde Wirtschaftswachstum, die wachsende Kluft in den Verteilungsverhältnissen und den Niedergang der öffentlichen Infrastruktur.

Zukunftsangst, Missmut und Unlust

Passend zur vorherrschenden Stimmung von Zukunftsangst, Missmut und Unlust ist eine zunehmende Zahl von Wählern bereit, Rechtspopulisten eine Chance zu geben, zumal wenn diese bei aller Radikalität auch ihre Differenz zu Faschismus und Rechtsextremismus herausstellen. Der rheingold-Chef sieht die Alternative so: »Wenn wir eine gemeinsame Idee einer Zukunft haben, werden sich diese Bewegungen von selbst entzaubern«. Die Voraussetzung sieht er in der »Umsetzung einer doppelten Integrationsaufgabe: die Flüchtlinge einerseits. Aber auch die Anhänger von AfD und Pegida und damit ein knappes Viertel der Gesellschaft, das sich innerlich von unserer Demokratie verabschiedet hat, müssen wir integrieren. Das gelingt nur, wenn wir vermitteln, dass es um Deutschlands Zukunft doch nicht so schlecht steht.«[7]

Vertreter der Linkspartei plädieren in dieser Situation für Rot-Rot-Grün als Sammlungsbewegung gegen Rechts. So bezeichnet der frühere Linksfraktionschef Gregor Gysi es als eine »Pflicht«, dass die Linkspartei »zusammen mit SPD und Grünen ein linkes Projekt gegen die jetzige Entwicklung Europas und Deutschlands« entwickelt. [8] »Die Linke hat gerade jetzt eine große Verantwortung. Sie muss begreifen, dass wir alle verlieren werden, wenn es uns nicht gelingt, ein funktionierendes, überzeugendes, linkes Projekt gegen die Rechts-Entwicklung in Europa und in Deutschland auf die Beine zu stellen.«

Politisch-moralischer Appell ist zu wenig

Mit Blick auf die offenkundigen Schwierigkeiten einer rot-rot-grünen Kooperation auf Bundesebene sagt Gysi: »Kann sein, dass es scheitert. Aber wir sind verpflichtet, es zumindest zu versuchen, wie es in Portugal geschieht.« Der politisch-moralische Appell ist jedoch zu wenig, weil mit ihm keine Idee der Lösung der Hauptprobleme oder der Zukunftsgestaltung verknüpft wird.

Michael Brie plädiert dafür, »den Kampf um wirklich linke Regierungen aufzunehmen, die die Abkehr vom Neoliberalismus einleiten.«[9] Es gehe dabei nicht darum, dass die Linkspartei »numerisch stärkste Partei wird, sondern dass mit anderen ernsthaft und dauerhaft linke Politik gemacht wird«. Die Linke sei »eine Wahlalternative geworden, aber keine machtpolitische Alternative. Und dies darf so nicht bleiben.« Soll eine machtpolitische Option – wie in Portugal – praktisch wahr werden, dann muss um gesellschaftliche Positionen gekämpft werden.

Portugal, Griechenland, Spanien

Was heißt dies etwa im Fall Portugal? Die Minderheitsregierung der Sozialisten wird von dem marxistisch-sozialistischen Bloco und den grün-alternativen Kommunisten toleriert, weil es um einen Politikwechsel, den Bruch mit der Austeritätspolitik geht.[10] Die Sozialisten haben angekündigt, die verfügbaren Einkommen zu erhöhen, um die Binnenwirtschaft stärker in Schwung zu bringen. Sie wollen die Inlandsnachfrage dynamisieren und auf diesem Wege das Steueraufkommen erhöhen.

Die neue Regierung hat zudem eine Reduzierung des krisenbedingten Aufschlages auf die Einkommenssteuer, die rasche Annullierung der Gehaltskürzungen im Staatsdienst sowie eine leichte Anhebung der seit 2010 eingefrorenen Renten und anderer Sozialleistungen angekündigt. Außerdem wird über eine Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns von jetzt 505 Euro monatlich, den derzeit rund 20% aller ArbeitnehmerInnen beziehen, auf 530 Euro im nächsten Jahr und auf 600 Euro bis 2019 nachgedacht.

Gibt es also eine mit Griechenland, Portugal und möglicherweise auch Spanien vergleichbare Zukunftsperspektive für die europäische Hegemonialmacht? Rechtskonservative und rechtpopulistische Strömungen fordern für Deutschland die Einführung einer nationalen Obergrenze bei der Aufnahme von Flüchtlingen. Eine einseitig festgelegte nationale Obergrenze bedingt ein repressives Grenzkontrollregime und ist ohne eine europäische Kettenreaktion nicht zu haben.

Abschottung wie Nichtstun sind keine linken Optionen für die europäische Union im 21. Jahrhundert. Und die deutsche Hegemonialmacht muss zu einem Bruch mit der europäischen Austeritätspolitik geführt werden. Daher geht es bei der Entwicklung einer Machtperspektive in Deutschland um zwei Aspekte einer Idee der Zukunft:

Zwei Aspekte einer Idee der Zukunft

Erstens: Die Praxis der Willkommenskultur bei der Aufnahme von Flüchtlingen muss zum einen durch ein bundesdeutsches Gesamtprojekt aufgebaut und aufgewertet werden. Eine solche gesamtstaatliche Konzeption zur Flüchtlingshilfe und Integration müsste von den Ressourcen auf die Anforderungen der Kommunen, der Sozialverbände und der ehrenamtlichen Netzwerke ausgerichtet sein. Neben der Schaffung von Quartieren und der Organisation der Erstbetreuung kommt es auf die Integration in den Arbeitsmarkt, in Schulen und Kitas an.

Außerdem ist davon auszugehen, dass die Bewegung der Schutzsuchenden auch im nächsten Jahr auf einem hohen Niveau blieben wird. Angesichts der sich in den letzten Monaten verschärfenden internationalen Krisenlage und der unzureichenden Finanzierung der UN-Organisation UNHCR und der Welthungerhilfe stehen Kommunen vor der großen Herausforderung, die gestiegene Anzahl von Flüchtlingen aufzunehmen und kurzfristig für eine menschenwürdige Unterbringung und Betreuung Sorge zu tragen. Dies stellt die Verwaltung vor erhebliche Herausforderungen, die nur gemeinsam mit der gesamten Gesellschaft gelöst werden können und eine entsprechende Verteilung der Finanzresourcen erfordern.

Das wird nur funktionieren, wenn der Staat in Zusammenarbeit Sozialverbänden und ehrenamtlichen Netzwerken ein ressortübergreifendens Handlungsprogramm zur Unterbringung, Betreuung und Integration von Flüchtlingen entwickelt. Flüchtlingspolitik ist ein Querschnittsthema. Erst Kooperation, Steuerung und Berichterstattung stellen sicher, dass die Umsteuerung gelingt, die einzelnen Maßnahmen ineinandergreifen und Ressourcen dort eingesetzt werden, wo sie notwendig sind.

Die Einbeziehung der zivilgesellschaftlichen Organisationen (z.B. kirchliche Träger und engagierte Gemeinden, Wohlfahrtsverbände, Integrationsrat, Stadtwerke, Jobcenter und Bundesanstalt für Arbeit) und der ehrenamtlichen Selbsthilfeorganisationen und Willkommensinitiativen sind unverzichtbar, um die Unterbringung und Betreuung der Flüchtlinge zu optimieren. Zudem müssen die gesetzlichen Spielräume für die Entwicklung eines offenen Aufnahme- und Integrationskonzeptes erweitert werden.

Außerdem muss das Dublin-System so reformiert werden, dass Geflüchtete ihr Aufenthaltsland selbst bestimmen können und es zu einem fairen Ausgleich zwischen den EU-Staaten kommt. Die EU muss Verantwortung gegenüber Geflüchteten insbesondere aus armen und kriegsgezeichneten Ländern übernehmen. Schließlich geht es auch um die deutliche Verbesserung der Finanzausstattung für die UN-Hilfsorganisationen wie die UNHCR, die Welthungerhilfe und den Syrienfonds.

Deutschland als anti-neoliberaler Vorreiter

Zweitens, und hier hat der italienische Regierungschef Renzi Recht: Deutschland muss der Vorreiter der Abkehr von neoliberaler Sanierungs- und Austeritätspolitik werden. Das wird aber nur möglich sein, wenn die politische Führung des Landes in andere Hände gerät. Denn vor allem die neoliberalen Hardliner sind sich ihrer Hegemonialrolle in der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion schon länger bewusst.

So stellte Finanzminister Wolfgang Schäuble bereits 2010 auf dem Höhepunkt der Finanz- und Wirtschaftskrise fest: »Die Bankenrettungsschirme, die nationalen und europäischen Programme zur Konjunkturstützung, die koordinierte Erarbeitung von abgestimmten ›Exit-Strategien‹ aus der expansiven Finanzpolitik, das Hilfspaket für Griechenland und der in wenigen Tagen gespannte Schutzschirm für den Euro sind beeindruckende Beispiele für die Handlungsfähigkeit einer Europäischen Union, die sich globalen Herausforderungen annimmt.«[11]

Und er schob gleich eine spezifische Erklärung für die Große Wirtschaftskrise nach, die nachfolgend die Begründung für die Abkehr von expansiver Konjunktur- und Strukturpolitik sowie zur Ausbildung des neoliberalen Austeritätsregimes in Europa lieferte. »Die globale Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise hat zudem die in einigen Euro-Mitgliedstaaten vorhandenen, schwerwiegenden strukturellen Schwächen zu Tage treten lassen. Die wirtschafts- und finanzpolitische Überwachung in der Eurozone war offenbar unzureichend, um solchen Fehlentwicklungen rechtzeitig entgegenzuwirken. Deshalb müssen wir die in der Eurozone zur Verfügung stehenden Instrumente in der Finanz- und Wirtschaftspolitik entschlossener nutzen. Alle Euro-Mitgliedstaaten müssen den Stabilitäts- und Wachstumspakt schnellstmöglich wieder einhalten.«[12]

Logik der Vorherrschaft

Nach einer kurzen Phase des expansiven Gegensteuerns wurde schon 2010 unter Führung der Bundesrepublik Deutschland die Finanz- und Wirtschaftspolitik in den Mitgliedstaaten wieder auf den »richtigen Kurs« zurückgeführt. Diese Logik der Vorherrschaft wird vom Finanzminister offensiv legitimiert: »In seinem Buch ›The World in Depression 1929-1939‹ analysiert der amerikanische Nationalökonom und Wirtschaftshistoriker Charles P. Kindleberger die Ursachen und das Wesen der 1929 ausgebrochenen Weltwirtschaftskrise. Für die besondere Länge und das Ausmaß dieser Krise macht er die damalige Zögerlichkeit der Vereinigten Staaten verantwortlich, die Führungsrolle der Weltwirtschaft zu übernehmen, als Großbritannien diese nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr ausüben konnte.

Seine Schlussfolgerung ist, dass die Weltwirtschaft zu ihrer Stabilisierung einen Stabilisator benötigt. Kindlebergers zentrale Botschaft ist im Jahr 2010 wichtiger denn je. Eine stabile Weltwirtschaft entsteht nicht ›von selbst‹. Sie ist ein öffentliches Gut, das angesichts nationaler Egoismen bewusst bereitgestellt werden muss. Damit die Weltwirtschaft stabil sein kann, benötigt sie eine Führungsnation, einen wohlwollenden Hegemon oder ›Stabilisator‹.«[13]

Wolfgang Schäuble ist davon überzeugt, dass diese Rolle des Hegemons auf die Europäische (Währungs-)Union übertragen werden muss. Konkret heißt dies seither: Deutschland und Frankreich gehen voran, leben die selbst auferlegten Regeln vorbildhaft vor und setzen so – wenn auch unter massiven Opfern – den Wendepunkt zum Besseren durch.

Massive Ausbreitung des Front National

Fakt ist allerdings: Selbst Frankreich ist inzwischen selbst »Opfer« der neoliberalen Stabilitätskultur und die massive Ausbreitung des Front National lässt die Frage aufkommen, ob das Land überhaupt noch für eine vernünftige europäische Politik zurückzugewinnen ist. Tatsächlich hat Deutschland also in Europa nicht für Stabilität gesorgt, sondern für Instabilität. Deutschland treibt mit dem Export von »Stabilitätskultur« die Mehrheit der europäischen Mitgliedsländer in die Instabilität – wirtschaftlich wie politisch, auch hier muss Renzi recht gegeben werden. Die Strategie, den Reformdruck auf verschuldete Länder aufrechtzuerhalten, hat für ein Klima der Verunsicherung gesorgt.

Deutschland hätte stattdessen in Anlehnung an die von Kindleberger dargestellten Erfahrungen Maßnahmen ergreifen müssen, um den eigenen Handelsbilanzüberschuss zu verringern. In Fortführung der expansiven Maßnahmen gegen die Krise wäre ein Wachstumsweg für Europa aus der Rezession nötig gewesen, der zugleich ein sozial verträglicheren Weg der Rückführung der Schuldenlast eröffnet hätte.

Statt eines solchen modernen keynesianischen Ansatzes besteht die politische und wirtschaftliche Elite weiterhin – auch ohne Zustimmung Frankreichs – auf der Austerität in der Eurozone. Das hat nicht nur den Ländern an der Peripherie erschwert, die eigene Wirtschaft in Gang zu bringen, sondern auch die Kriselage verschärft. So etwas wie einen New Deal oder europäischen Marshallplan für die verschuldeten Länder Europas war in den gegebenen politischen Konstellationen nicht durchsetzbar.

Ein europäischer Politikwechsel

Hans Kundnani, Research Director am European Council on Foreign Relations, resümierte in einem Interview mit Spiegel Online bereits zu Beginn dieses Jahres zu Recht, dass man heute von einem neuen Wirtschaftsnationalismus sprechen kann, der es für Deutschland schwieriger macht, zur Lösung der Eurokrise beizutragen. »Fast die Hälfte des deutschen Bruttoinlandsprodukts hängt heute von Exporten ab. Man könnte das beklagen, weil es Deutschland sehr anfällig und abhängig von der internationalen Nachfrage macht. Stattdessen ist es ein Quell des nationalen Stolzes geworden. Ich finde verblüffend, mit welcher Selbstverständlichkeit deutsche Politiker neuerdings von der ›Exportnation‹ sprechen. ›Exportwirtschaft‹, den Begriff kannte ich. Aber ›Exportnation‹?«[14]

Wegen der weit verbreiteten Sorge und Angst vor Armut, Arbeitslosigkeit, Ungleichheit und der extremen Konzentration von Einkommen und Reichtum bleibt ein europäischer Politikwechsel hin zu einem alternativen Sanierungs- und Wachstumsmodell unverzichtbar. Die zentrale realwirtschaftliche Ursache der Eurokrise liegt in der ungleichen Entwicklung der Handels- und Kapitalströme. Seit Einführung des Euro werden die wirtschaftlich starken Volkswirtschaften stärker, die wirtschaftlich Schwachen dagegen schwächer. Ohne einen Abbau dieser Ungleichgewichte wird der Euro nicht überleben und sich kein dauerhafter und stabiler Pfad gesellschaftlicher Reproduktion und keine stabile Formation gesellschaftlicher Kompromissbildung finden lassen.

Eine vertiefte europäische Koordination von Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik ist aber keineswegs ein Nullsummenspiel, bei dem Deutschland verlieren muss, damit andere Länder etwas bekommen können. Ganz im Gegenteil: Die Unterscheidung von Gewinnern und Verlierern einer Reform der EU und der Eurozone darf nicht entlang nationaler Grenzen, sondern muss entlang sozialer Schichten verlaufen.

Die massiven sozialen Marginalisierungs- und Spaltungsprozesse im europäischen Gegenwartskapitalismus haben durch das neue Ausmaß einer Verweigerung grundlegender sozialer Teilhabemöglichkeiten für einen Großteil der Bevölkerung eine besondere Dramatik erhalten. Durch ein umfassendes Reformprogramm lässt sich eine qualitative Wachstums- und Beschäftigungsstrategie realisieren.[15]

Denn es ist unabweisbar, dass mit der bloßen Fortführung von Struktur- und Kohäsionspolitik in der EU die vorhandenen und wachsenden Unterschiede in der Leistungsfähigkeit der nationalen Ökonomien in Europa nicht überwunden werden können. Das anstehende Referendum in Großbritannien über die weitere Zugehörigkeit zur Europäischen Union zeigt die Unaufschiebbarkeit eines Neuanfangs. Allein Korrekturen oder Änderungen am Währungssystem des Euro sind kein Ersatz für eine umfassende Entwicklung von Ausgleichsprozessen in der Union.

Joachim Bischoff ist Mitherausgeber von »Sozialismus«. Sein Beitrag erschien zuerst auf der Internetseite der Zeitschrift.

[1] http://www.ft.com/cms/s/0/c6ab59e2-a8c1-11e5-955c-1e1d6de94879.html
[2] http://www.rheingold-marktforschung.de/veroeffentlichungen/artikel/Wahl_2013_Das_bedrohte_Paradies.html
[3] http://www.huffingtonpost.de/2015/12/08/stephan-gruenewald-starker-mann-rheingold-_n_8748244.html?utm_hp_ref=germany
[4] http://www.rheingold-marktforschung.de/veroeffentlichungen/artikel/Wahl_2013_Das_bedrohte_Paradies.html
[5] http://www.maz-online.de/Brandenburg/Gabriel-Die-AfD-ist-eine-rechtsradikale-Partei
[6] Siehe dazu auch: Joachim Bischoff/Bernhard Müller: Rechtsdrift in Europa, Alternative für Deutschland und linke Auswege, in: Sozialismus 1-2016, S. 18-26
[7] Siehe Anmerkung 5.
[8] Interview mit dem Spiegel, Ausgabe 53 vom 24.12.2015
[9] Michael Brie: Für eine linke Regierung in Deutschland, in: Sozialismus 1-2016, S. 47-51
[10] Vgl. dazu Joachim Bischoff: Europas südliche Krisenländer im Aufbruch. Spanien, Portugal und Griechenland im Kampf gegen die neoliberale Hegemonie, in: SozialismusAktuell vom 22.12.2015; http://www.sozialismus.de/kommentare_analysen/detail/artikel/europas-suedliche-krisenlaender-im-aufbruch/
[11] Rede des Bundesministers der Finanzen an der Université Paris-Sorbonne am 2.11.2010; http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Reden/2010/2010-11-02-sorbonne.html?view=renderPrint
[12] Ebda.
[13] Ebda.
[14] Deutsche Vorherrschaft in Europa: »Ein neuer Wirtschaftsnationalismus«; SpiegelOnline 4.2.2015; http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/deutschland-in-der-eurokrise-ist-merkel-wie-bismarck-a-1016336.html
[15] Bezogen auf Griechenland siehe hierzu auch: Joachim Bischoff/Björn Radke, »Isch over«? Griechenland und die Eurozone. Syrizas Kampf gegen die neoliberale Hegemonie. Eine Flugschrift, Hamburg 2015, insbes. S. 70-75.

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