Nach der Gewalt gegen Frauen in Köln gilt der Fremde als Inkarnation der Bedrohung. Herkunft und Sozialisation der Täter sind für die Erforschung der Ursachen von Gewalt zwar von Bedeutung, sollten für die Frage der Prävention für potenzielle Opfer aber irrelevant sein.
Die Emotionen des Menschen gegenüber dem Fremden, dem Unbekannten, lassen sich auf zwei Grundgefühle vereinfachen: Angst und Empathie. Beide Gefühle waren von Anbeginn der Menschheit existenziell für jede Sippe, für jedes Individuum. Das Fremde (bzw. das als fremd Empfundene) konnte den Fortschritt begünstigen, aber auch den Untergang bedeuten. Im Entwicklungsprozess von Kleinkindern lassen sich diese beiden Grundgefühle in Variationen noch heute gut beobachten: Sie treten Fremden sowohl mit empathischer Neugier als auch mit Misstrauen gegenüber.
Das Ausbalancieren dieser beiden Empfindungen, die Besänftigung der Angst zugunsten der Bereitschaft der Kooperation, ist wesentlicher Aspekt der Zivilisationsleistung aller Gesellschaften. »Angst ist tief in der menschlichen Existenz verankert, seit Urzeiten sendet sie Warnsignale und erlaubt, einmal überwunden, Entwicklungssprünge«, schreibt der Leiter des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen, Claus Leggewie, in einem Gastbeitrag für die FAZ (»Der Weg in den Angststaat«, Mittwochausgabe). Moderne Gesellschaften hätten Mechanismen entwickelt, »Urängste auf Risiken herunterzudimmen«. Die Agenturen dafür seien Staat und Politik. Doch im sicheren und reichen Deutschland werde den Sicherheitsversprechen der beiden Institutionen nicht mehr geglaubt. »Wo unkalkulierbare Gefahren kulminieren, macht sich eine Politik der Angst breit.«
Leggewie bezieht sich auf das seit einigen Jahren zu beobachtende Phänomen, das »private Ängste wieder in Zustände kollektiver Panik« umschlagen. Diese grassiere in vielfältigen, politische Lager und Kulturen übergreifenden Varianten: als Angst vor islamistischen Selbstmordattentätern, vor der Klimakatastrophe, vor Kriminalität, Amerikanern, Juden, Aliens. Die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen: ... Russen, Kondensstreifen am Himmel (sogenannte Chemtrails), den Dritten Weltkrieg. Gepuscht würden, so Leggewie weiter, solche irrationalen Ängste durch die zunehmende Angst der Angehörigen der Mittelschicht, sozial abzurutschen.
Der Katalysator für diese Entwicklung, so muss ergänzt werden, sind Medien- und Politikdebatten. Allen Statistiken und Studien zum Trotz, die eine seit Jahrzehnten abnehmende Kriminalitätsrate (vor allem im Bereich der Gewaltkriminalität) in Deutschland nachweisen, wird in der Öffentlichkeit vielfach das Gegenteil angenommen. Als Inkarnation dieser Bedrohung gilt zudem der Fremde.
Leggewie bezieht sich in seinem FAZ-Artikel nicht auf die Ereignisse am Silvesterabend in Köln, bei denen laut Polizeibericht mehrere Dutzend Frauen von Männern sexuell belästigt und bestohlen wurden, und auch nicht auf die mit einigen Tagen Verzögerung einsetzende Debatte über die Hintergründe der Taten sowie die juristischen und politischen Konsequenzen. Die Aussagen von Opfern und Zeugen, dass die Täter aus einer Gruppe »nordafrikanisch« bzw. »arabisch« aussehenden Männern heraus agierten, reicht aus, um den Politik- und Medienbetrieb zum Hyperventilieren zu bringen und eine Debatte über die angeblich gescheiterte Integration von Migranten zu führen.
Die Kritik, angesichts der vermuteten ethnischen bzw. kulturellen oder religiösen Herkunft der mutmaßlichen Täter in Panikzustände zu verfallen, müssen sich aber auch jene gefallen lassen, die den Zusammenhang zwischen soziokultureller Milieuprägung und Handeln ignorieren. Auf Facebook etwa waren schon rasch nach Beginn der Debatte Stimmen aus dem antirassistischen Lager zu vernehmen, die die These von »enthemmten Männern« zurückwiesen und die Taten auf das Vorgehen von organisierten Kriminellen reduzierten, die ihre Opfer zur Ablenkung angrabschen, um sie zu berauben.
Herkunftsmilieu und Sozialisation der Täter sind allerdings für die Frage der Prävention für potenzielle Opfer irrelevant. Mag die Kriminalitätsrate etwa im Bereich der Intensivtäter in der arabischen Community in Deutschland auch signifikant höher sein als in anderen Gruppen, sie bewegt sich im minimalen Promillebereich. Bei der Begegnung mit einem »deutsch« aussehenden Mann ist davon auszugehen, dass er zu 99,999 Prozent kein Sexualstraftäter ist. Bei der Begegnung mit einem »nordafrikanischen« bzw. »arabisch« aussehendem Mann besteht diese Sicherheit zu 99,99 Prozent.
Mehr kollektive Panik führt zu mehr Ressentiment. Wer im Ressentiment lebe, so Leggewie, im »Gefühl der dauernden Kränkung« und der »dauernden Beschwörung des Untergangs«, den holten auch schärfere Kontrollen an Bahnhöfen nicht mehr in die Wirklichkeit zurück.
Dies ist eine am 8. Januar geänderte Version des Artikels (siehe Anmerkung des Autors in den Kommentaren). d.Red.
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