Nicht nur »Mein Kampf« verliert Urheberrecht
Streit um Tagebuch der Anne Frank
Darf man das lesen? Muss man das lesen? Ist die kommentierte Ausgabe nicht sowieso schon ausverkauft? Sollten Lehrer das Buch nicht öfter im Schulunterricht behandeln? Ist es eine Anleitung zum Hass oder Warnung vor neuzeitlichen Hassenden? Lesen Jugendliche es nicht sowieso im Netz? Oder beschert der Hype dem Buch nicht gerade jene Öffentlichkeit, die ihm die letzten Jahrzehnte zum Glück verwehrt blieb?
Seit Wochen diskutieren Medien und Politik über Hitlers »Mein Kampf«. Darüber, wie oft, durch wen und wie stark kommentiert die Propagandaschrift 70 Jahre nach dem Tod des Diktators gelesen werden muss, um heutige und damalige Rassisten zu verstehen. Dabei gibt es ein Buch, das über die Folgen von Rassismus und Nationalismus viel ehrlicher, eindringlicher und schonungsloser Auskunft gibt - und das ganz ohne Kommentierung.
Dass sowohl Hitlers »Mein Kampf« als auch das »Tagebuch der Anne Frank« ihr Urheberrecht am selben Tag verloren haben, liegt zunächst an ersterem. Anne Frank starb mit 15 Jahren im März 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Zum zweiten liegt es am europäischen Urheberrecht. Dieses sieht vor, dass die Schutzfrist immer am 1. Januar nach dem Todestag eines Autors abläuft. Eigentlich. Denn an der Urheberrechtsfrage hat sich nun auch im Fall von Anne Franks Tagebuch ein Streit entzündet. Dabei stehen sich eine niederländische Abgeordnete und ein Wissenschaftler auf der einen und der eigentliche Rechteinhaber, der »Anne Frank Fonds« auf der anderen Seite gegenüber. Die Grünen-Abgeordnete Isabella Arrand und der Informationswissenschaftler Olivier Ertscheid von der Universität Nantes hatten das Buch mit Verweis auf das EU-Urheberrecht ins Netz gestellt.
»Bei diesem Text, diesem Zeugnis und was es darstellt, habe ich weiter die Überzeugung, dass es keinen anderen Kampf zu führen gilt, als den seiner Befreiung«, rechtfertigt Ertzscheid auf seinem Blog die Entscheidung, der der »Anne Frank Fonds« entschieden widerspricht. Nach dessen Ansicht greift bei dem Werk eine 50-jährige Schutzfrist für posthum veröffentlichte Werke. Da das vollständige Tagebuch erstmals 1986 veröffentlicht worden sei - so die Argumentation des Fonds - sei dieses noch bis 2037 urheberrechtlich geschützt.
Der Fonds mit Sitz im schweizerischen Basel wurde von Anne Franks Vater Otto gegründet, um die Erlöse aus dem Tagebuch wohltätigen Zwecken zukommen zu lassen und hatte schon öfter versucht, seine Rechte vor Gericht einzuklagen. Nicht immer mit Erfolg: So gab ein niederländisches Gericht erst im Dezember letzten Jahres der Amsterdamer Anne Frank Stiftung recht, die gefordert hatte, Texte aus dem Tagebuch für wissenschaftliche Zwecke kopieren und veröffentlichen zu dürfen. Die Freiheit der Wissenschaft habe Vorrang vor dem Urheberrecht, so die damalige Begründung der Richter.
In diesem Sinne schreibt nun auch Ertzscheid auf seinem Blog: »Dieser Text ist noch mehr als andere dazu bestimmt, aller Welt zu gehören.« Dazu brauchte Anne Franks Tagebuch allerdings weder 70 Jahre, noch auf die Veröffentlichung als gemeinfreies E-Book zu warten. In 70 Sprachen wurde die Notizen der 15-Jährigen deutschen Jüdin aus ihrem im Amsterdamer Exil übersetzt, mehr als 30 Millionen mal wurde das Tagebuch in den letzten Jahrzehnten verkauft. Lesen sollte man es auch 70 Jahre nach Anne Franks Tod noch - mit oder ohne Urheberrecht.
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