Wenige Erkenntnisse und viele Gerüchte
Geistesgegenwärtiges Verhalten der Reiseführerin verhinderte noch größere Opferzahl
Wie bereits am Dienstag vermutet wurde, stammen alle zehn Opfer des Anschlags in Istanbul aus Deutschland. Der Selbstmordattentäter sprengte sich inmitten einer Reisegruppe von deutschen Touristen in die Luft - so die bisherigen Erkenntnisse. Inzwischen wurden alle Opfer identifiziert, sie stammen aus Berlin, Brandenburg, Hessen und Rheinland-Pfalz.
Unter den elf Verletzten sind acht Deutsche, zwei von ihnen schweben noch in Lebensgefahr. Möglicherweise hätte es zu mehr Opfern kommen können. Wie die Istanbuler Tageszeitung »Hürriyet« berichtet, hatte Sibel Satiroglu, die Reiseführerin der deutschen Touristen, den Selbstmordattentäter bemerkt und auf Deutsch »Lauft weg!« geschrien - und so vermutlich dafür gesorgt, dass die Explosion nicht noch mehr Opfer gefordert hatte. Sie überlebte den Anschlag verletzt. Ihre besonnene und mutige Reaktion wird derzeit in der türkischen Öffentlichkeit gelobt.
Die türkischen Sicherheitsbehörden hingegen stehen unter heftiger Kritik. Es ist der türkischen Polizei und dem Nationalen Nachrichtendienst (MIT) bisher nicht gelungen, die Aktivitäten des Islamischen Staates (IS) in der Türkei zu beenden. Über sieben Monate nach dem Anschlag in Suruc an der Grenze zu Syrien mit 34 Toten und mehr als ein Vierteljahr nach dem Anschlag von Ankara mit 102 Toten ist der IS in der Türkei offenbar immer noch in der Lage, mitten im touristischen Herzen Istanbuls einen solchen Anschlag zu verüben.
Allerdings muss auch hier daran erinnert werden, dass der IS sich zu all diesen Anschlägen nicht bekannt hat. Die Täterschaft des IS wurde und wird seitens der Türkei behauptet - eine endgültige Klärung dieser Frage erfolgte damit aber nicht. Die Skepsis gegenüber den offiziellen Verlautbarungen ist hoch, nicht zuletzt wegen Äußerungen wie etwa von Ministerpräsident Ahmet Davutoglu, der bei dem Anschlag von Ankara von einer »Zusammenarbeit von IS und PKK« sprach.
Diese absurden Vorwürfe gegenüber der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) tauchen auch jetzt wieder auf. Regierungsnahe Medien versuchen, bei dem jetzigen Anschlag in Istanbul eine Verbindung zu der linken Oppositionspartei HDP, der Demokratischen Partei der Völker, herzustellen, so etwa die Istanbuler Tageszeitung »Yeni Safak«. Der IS hatte im vergangenen Jahr mehrere Anschläge in der Türkei verübt, sich dabei aber vornehmlich auf kurdische Ziele konzentriert. Touristen waren bislang kein Anschlagsziel des IS.
Die Kombination von wenig glaubwürdiger Nachrichtenpolitik seitens der offiziellen Stellen und einer regierungsnahen Presse, die gerne Gerüchte verbreitet, sorgt dafür, dass Verschwörungstheorien und Gerüchte sehr schnell entstehen und sich ausbreiten können.
So sorgte die Tatsache, dass wenige Stunden nach dem Anschlag in Istanbul Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan den Täter bekannt gab - inklusive Name, Alter und seiner syrischen Herkunft - für Gerüchte, ob möglicherweise der MIT in den Anschlag verwickelt ist. Ansonsten verhängte die türkischen Medienaufsicht eine Nachrichtensperre und begründete das mit der »nationalen Sicherheit«
Die Polizei hat inzwischen einen Verdächtigen in Zusammenhang mit den Ermittlungen zum Anschlag in Istanbul festgenommen, wobei bisher keine Einzelheiten bekannt gegeben wurden. Über den Täter dagegen wurden Angaben gemacht. Nach Aussage des türkischen Innenministers Efkan Ala handelt es sich um Nabil Fadli, einen 27-jährigen Saudi-Araber mit syrischem Pass, der am 5. Januar nach Istanbul eingereist sei. Die Sicherheitsbehörden nehmen an, dass der Täter zum IS gehört. Saudi-Arabien wie auch Ägypten verurteilten den Anschlag in Erklärungen ihrer Regierungen.
Parallel zu den Ermittlungen zum Anschlag fanden zwei Polizeirazzien in Antalya und Konya gegen mutmaßliche IS-Unterstützer in der Türkei statt. Dabei wurden insgesamt sieben Verdächtige festgenommen. Allerdings stehen diese Festnahmen wohl nicht in enger Verbindung zu den Ermittlungen in Istanbul.
Insgesamt bleibt die Sicherheitslage in der Türkei angespannt. Weitere Anschläge, gerade in den touristischen Zentren, können nicht ausgeschlossen werden. Der Krieg im Osten des Landes sorgt indes für zusätzliche Bedrohungen - nicht nur für die türkische Bevölkerung.
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