»Giftiges Zeitdokument«

Das deutsche Unterhaltungsfernsehen neigt bei brisanten Themen zur Selbstzensur

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 4 Min.
Der Fernsehzuschauer ist ein empfindsames Wesen. Man muss ihn gut unterhalten, aber auch sorgsam behüten.Die Fernsehzuschauerversorger planen daher sehr sorgfältig, was sie ihrem Publikum vorsetzen. Oder: vorenthalten.

Der Fernsehzuschauer ist ein empfindsames Wesen. Man muss ihn gut unterhalten, aber auch sorgsam behüten. Auf Erschütterungen jeder Art reagiert er sensibel, Sehgewohnheiten sind ihm heilig. Wird daran gerüttelt, droht der Griff zur Fernbedienung. Die Fernsehzuschauerversorger planen daher sehr sorgfältig, was sie ihrem Publikum vorsetzen. Oder auch: vorenthalten.

Einen »Tatort« zum Beispiel, erstmals im Karneval 1980 gezeigt. Und letztmals. Denn »Der gelbe Unterrock«, hieß es fortan beim damaligen Südwestfunk, genüge nicht den Qualitätsstandards und sei zu brutal, weshalb der dritte Fall von Nicole Heesters als Kommissarin Buchmüller vor 36 Jahren an einem Ort landete, der inoffiziell jeden Funkhauskeller möbliert: im Giftschrank peinlicher, verbotener oder sonstwie unzumutbarer TV-Formate. Ungezeigt, nie wiederholt, auf dem Abstellgleis der Fernsehgeschichte.

Dass die 109. Folge des damals noch jungen Dauerbrenners der ARD so lang darin herumlag, hat aber gute Gründe. Die Geschichte eines Frauenmörders mit Kleidertick, der zur Mainzer Fassnacht sein Unwesen treibt, ist ja nicht nur dramaturgisch holprig und voll logischer Lücken, sondern auch behäbig inszeniert, also: eher öde. Umso erstaunlicher, dass der SWR den fiktionalen Fall von sexualisierter Männergewalt ausgerechnet jetzt wiederholt, da in den Faschings-, Fastnachts- und Karnevalhochburgen angesichts der Silvestervorfälle am Kölner Hauptbahnhof den närrischen Tagen ängstlich entgegenblickt wird.

»Der Film ist langsam und nicht gerade actiongeladen«, erklärt SWR-Filmchefin Martina Zöllner die Entscheidung zur Zweitausstrahlung, »verhandelt aber einen psychologisch interessanten Fall« und sei als »Zeitdokument« seiner Epoche sehenswert. In der Tat: Von der Ausstattung über die extrem reduzierte Dialogregie bis hin zur Gewaltfrage gewährt dieser »Tatort« einen nostalgischen Blick in die Frühzeit des Genres, der umso mehr erstaunt, als die Brutalität darin im Vergleich zu den heute zur Primetime im Fernsehen laufenden Filmen von Quentin Tarantino oder schwedischen Krimigemetzeln ziemlich harmlos wirkt. Heute reicht selbst das blutige Terrorszenario im »Polizeiruf: Denn sie wissen nicht, was sie tun« Anfang 2011 oder die düstere Atmosphäre der unaufhaltsamen Hinrichtung von Kölns damaliger »Tatort«-Assistentin »Franzsika« drei Jahre später allenfalls zur Verschiebung der Sendezeit nach 22 Uhr. Damit die Programmverantwortlichen etwas mit Verweis auf den Jugendschutz oder der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) jedoch mit einem »Sperrvermerk« kennzeichnen, müssen schon härtere Faktoren hinzukommen - ästhetische, moralische - und vor allem juristische.

Legendär ist hier das ZDF-Dokumentarspiel »Der Soldatenmord von Lebach«, dessen Ausstrahlung ein Tatbeteiligter 1972 aus Gründen verletzter Persönlichkeitsrechte so nachhaltig verhindern konnte, dass Sat.1 eine Neubearbeitung trotz Erlaubnis durchs Bundesverfassungsgericht erst zehn Jahre nach der Fertigstellung 1996 zeigte. Ebenfalls aus gründen des Selbstschutzes verhinderte Moderator Cherno Jobatay kurze Zeit später mit juristischen Mitteln die Ausstrahlung eine Folge von »Zimmer frei!«, weil Götz Alsmann darin ständig Jobatays Lethargie aufs Korn nahm. Und ein hessischer »Tatort« namens »Der Fall Geisterbahn« aus dem Jahr 1972 bleibt dank ungeklärter Lizenzfragen nach wie vor unter Verschluss.

Meistens jedoch sind es die Sender selbst, denen das eigene Tun irgendwie unangenehm ist. Vom halben Dutzend tabuisierter »Tatort«-Folgen etwa liegen drei wegen der Diskriminierung von Juden, Aleviten oder Epileptikern auf Eis. Fast putzig erscheint es da, dass ein früher »Derrick« nach Zuschauerprotesten ins Archiv verbannt wurde, weil darin ein Kind ermordet wird. Was heute gefühlt ein Drittel aller Krimis füllt, reichte 1976 noch locker zur Selbstzensur.

Auf diesen Begriff wartet man bei den Sendern jedoch vergeblich, obwohl nicht nur der Bayerische Rundfunk, der sich 1986 aus der Satiresendung »Scheibenwischer« ebenso aus ideologischen Gründen ausgeklinkt hat wie aus 1977 dem Schwulendrama »Die Konsequenz« und einer Reihe anderer unliebsamer Sendungen. Als ein Tsunami Ende 2005 Teile Asiens verheerte, hat Pro 7 seinen (zuvor gedrehten) Katastrophenfilm gleichen Titels aus Pietätsgründen ebenso verschoben wie RTL infolge der abgestürzten Germanwings-Maschine vor knapp einem Jahr sein Fliegerepos »Starfighter«. Wenn selbst die ARD eine Runde »hart aber fair« aus der Mediathek streicht, weil das Gender-Thema darin arg populistisch debattiert wurde, zeigt sich, wie empfindlich Absender und Adressaten beim Thema Zumutbarkeit sind.

Die Giftschränke sind also gut gefüllt. Allein beim WDR sollen darin rund 4000 Sendungen liegen. Und auch, wenn der SWR von so einem Möbelstück nichts wissen will, liegt darin noch immer jemand herum, der einst in »Der gelbe Unterrock« einen Triebtäter zur Fasnacht ermittelt hat: Nicole Heesters. Ihr dritter Fall war auch der letzte.

»Tatort: Der gelbe Unterrock«, SWR, 16.1., 23.45 Uhr.

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