»Wir sind sichtbarer geworden«
Der tunesische Menschenrechtsaktivist Badr Baaboo über die langsame Öffnung seines Landes für Lesben, Schwule und Transgender
Tunesien gilt als das Land Nordafrikas, das die deutlichsten demokratischen Fortschritte vorweisen kann. Wo steht die für die Gleichstellung von sexuellen Minderheiten kämpfende LGBTI-Bewegung fünf Jahre nach der Revolution?
Die Situation bei uns unterscheidet sich deutlich von allen anderen Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens. Die Revolution hat uns ermöglicht, für unsere Rechte zu kämpfen, so dass wir heute sichtbarer sind.
Wie drückt sich das aus?
Wenige Tage bevor Diktator Ben Ali im Januar 2011 das Land verließ, haben wir erstmals öffentlich die Regenbogenfahne gezeigt. Während des Weltsozialforums im letzten Jahr demonstrierten wir öffentlich für unsere Rechte. Wir haben die Aktion nicht groß vorbereitet, sondern uns einfach getroffen. Mittlerweile ist mit Shams erstmals eine Organisation zugelassen worden, die sich explizit auf Homosexuellenrechte bezieht. Einfach ist die Situation dennoch nicht. Unser Kampf findet in einer auch weiterhin sehr homophoben Umgebung statt.
Homosexualität ist im Mutterland der Arabischen Revolution nach wie vor verboten, der Umsturz 2010 hat jedoch zu offeneren Debatten geführt. Tobias Lambert sprach mit dem tunesischen Aktivisten Badr Baaboo von der Organisation Damj, die 2002 gegründet und 2010 offiziell registriert wurde. Aufgrund der Rechtslage ist in ihren Statuten nicht von Homosexualität, sondern von der Inklusion von Minderheiten die Rede.
Was bedeutet das konkret?
Homosexualität ist ein Fakt, jeder weiß, dass es sie in Tunesien gibt. Aber die meisten Leute verschließen die Augen davor. Sie akzeptieren uns nur, solange wir nicht für unsere Rechte und Freiheiten kämpfen. Laut Artikel 230 des Strafgesetzbuchs sind homosexuelle Handlungen strafbar und können mit bis zu drei Jahren Gefängnis geahndet werden. Es gibt zwar viele Orte, an denen sich LGBTI-Personen treffen können, aber die sind niemals sicher. Die Polizei könnte jederzeit Leute verhaften.
Ihre Organisation Damj berät Betroffene rechtlich. Haben Sie also nach wie vor viel Arbeit?
Ja, denn Artikel 230 wird noch immer systematisch angewendet, und viele Anwälte weigern sich, Homosexuelle zu verteidigen. Die meisten Fälle werden gar nicht bekannt und offizielle Zahlen gibt es nicht. Aber wir schätzen, dass im Moment etwa 300 LGBTI-Personen auf Grundlage dieses Artikels im Gefängnis sitzen. Im September erst wurde ein 22-jähriger Student, wir nennen ihn Marwan, zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Zuvor zwangen sie ihn, sich einer Analuntersuchung zu unterziehen, die angeblich beweisen soll, dass er schwul ist. Viele Betroffene wollen nicht öffentlich darüber sprechen, im Falle Marwans war das anders. Dadurch konnten wir eine öffentliche Debatte in Gang bringen.
Hat sie etwas bewirkt?
Am 5. November setzte ein mutiger Richter Marwan gegen Kaution auf freien Fuß. Für die Community ist das ein wichtiger Schritt.
Hat die öffentliche Debatte zu der Freilassung geführt?
Durch die Debatte konnten wir Druck aufbauen. Es sind nicht mehr nur Aktivist*innen, die sich für das Thema interessieren. Ich kenne Menschen, die früher homophob waren, sich nun aber geschockt über diese Untersuchung zeigen. Wir sind viel außerhalb der Hauptstadt unterwegs, um zu informieren und hören heute in den Cafés Leute über Artikel 230 diskutieren. Viele haben sich auch öffentlich zu dem Fall geäußert. Das prominenteste Statement kam vom Justizminister, der sagte, der Artikel sei nicht mehr zeitgemäß und sollte abgeschafft werden.
Warum macht er es nicht?
Er sagte auch, dass das nicht in seiner Macht stehe und forderte die Zivilgesellschaft auf, sich dafür einzusetzen. Anschließend wurde er entlassen. Ein negativer Effekt der Debatte ist, dass Polizisten, die Artikel 230 zuvor gar nicht kannten, bei Straßenkontrollen nun offen mit dessen Anwendung drohen.
Wie groß schätzen Sie die Chancen ein, diesen Artikel 230 zeitnah abzuschaffen?
Wir sind noch weit davon entfernt. Wir müssen noch viel Lobbyarbeit betreiben, damit überhaupt das Bewusstsein entsteht, dass LGBTI-Rechte Menschenrechte sind. Viele Organisationen argumentieren, dass es in der derzeitigen politischen Situation wichtigere Themen gibt. Selbst unter den progressiven Politiker*innen kommen wir bisher nicht auf zehn Abgeordnete, die nötig sind, um das Projekt im Parlament einzubringen. Eine andere Möglichkeit wäre, dass das Verfassungsgericht prüft, ob Artikel 230 gegen die neue Verfassung verstößt. Doch das Gericht arbeitet bisher noch nicht. Es gibt aber noch eine andere Hoffnung: Artikel 230 stammt aus der Kolonialzeit und derzeit überprüft eine Kommission alle Gesetze, die einst von den Franzosen eingeführt wurden. Davor hatten wir keine homophoben Gesetze.
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