Hoch die Bodenhaltung!

Ein Loblied auf Herbert Fritsch - weil öder deutscher Ernst und schlechte deutsche Laune so auf die Nerven gehen

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Welch eine Tragik! Das Theater hatte es doch fast geschafft! Gefestigt im Glauben an den erhabenen griechischen Ursprung. Beseelt von Aufklärung und Klassik. Gehärtet im Pathos des politischen Dramas. Glühend sinnbegabt. Sittsam wie sattsam durchtränkt von den poetischen Realismen der Jahrhunderte. Das Theater war doch wer. Ethik hoch drei! Langweilig, aber gut und wahr. Es holt gerade jetzt mit besonderer Vorliebe Flüchtlinge auf die Bühne - als suche Deutschland den Superflüchtling.

Ja, fast geschafft hat es das Theater. War in niederreißender Welt beinahe unverwundbar durch jede Blödelei. Unverwundbar wie Nibelungens Siegfried. Siegfried? Also: nur beinahe unverwundbar. Wer volksbühnenbeseelt ist, denkt da sofort an Hagen von Tronje und daran, dass es vor Jahren der Schauspieler Herbert Fritsch war, der diese Rolle bei Frank Castorf gab - spillrig, widerhakenfingrig, schlangenzüngig bis an die Zehen. Nosferatuntig hat er diesen Tronje in die Theatergeschichte geschnipst. Der Augsburger, 1951 gleichsam nah an der Puppenkiste geboren, brillierte in »Pension Schöller/Die Schlacht« mit einer lebenden Schlange, er zog in »Die Frau vom Meer« einen einzigen Satz, und das weit nach Mitternacht, derart in die Länge, dass man irgendwann meinte, die Morgensonnenstrahlen würden schon durch die Theaterritzen lugen. Man warf Bierflaschen nach ihm. In »Clockwork Orange« sudelte, saute, schrie und schrundete er sich durch eine Hölle aus blubbernder, blutender, bibbernder Masse Mensch.

Castorfs großer Grusel-und-Groteskbarde. Mit Gebärdendrang ohne Grenzen. Ein Verstörungs-Maniker. Ein Tobsuchts-Kobold. Aber in den derbsten Veräußerungen war doch ein Flehen zu hören; der Gummiball war stets auch ein Schmerzensmann. Der eines Tages unter der Strapaze litt, dauernd nur außer sich zu sein. Als er 2007 die Volksbühne verließ, kam der andere Fritsch: der Internet-Experte. Er verfing sich geradezu im Netz, hackte sich wie besessen, wie krank in die Informatik ein, hielt sogar Vorlesungen. Und: entwarf in zahllosen Videosplittern einen labyrinthischen multimedialen »Hamlet_X« fürs Internet. Szenen, Interviews, Porträts. Monumental in der Besetzung: die deutsche Schauspielelite. Hunderte Filmsplitter. Jeder Zusammenhang war nur noch flüchtige Vorstufe neuer Auffächerungen; statt eines durchkontrollierten Drehbuchrealismus entwickelte Fritsch ein zentrumloses, dynamisches Geflecht. So erfüllte sich der Schauspieler seine Sehnsucht nach »Asozialität«.

Dieser Fritsch also. Noch mal zu seinem Hagen von Tronje: Der war der Mörder. Der Mörder ist seit einiger Zeit überall - der Regisseur Herbert Fritsch. Der kennt nämlich auch beim Theater die Stelle des Lindenblatts. Fritsch stößt zu. Dreht den Spieß um, bis dem so ehrwürdigen, ehrpusseligen Theater die Tränen kommen - und zwar Tränen des Lachens.

Er kam als Regisseur aus dem Nichts. Aus jener Leere, die der Schauspieler mit sich, in sich, um sich herum fühlte - und plötzlich war er sogar auf Anhieb mit zwei Inszenierungen beim Berliner Theatertreffen! Wurde inzwischen zur Marke zwischen Hamburg und Zürich, München und Berlin. Hatte in Oberhausen und Schwerin und Wiesbaden die Zentren lockend umkreist. Geriet selbstredend in die Gefahr der Wiederholungsschleifen. Lässt sich nicht beirren. Spaßt gegen die Krise. Blödelt gegen die allgemeine Betroffenheit. Wie nach den Verheerungen der mittelalterlichen Pest - da es just im Schlimmsten einen »boccaccionischen« Aufschwung des Frivolen, des provokativ Heiteren gab; mitten im Nachgestank der Epidemie ein luftiger, Lust atmender Geist.

Das Theater Fritschs ist die Kunst eines Mannes, der die Droge kennt und den Rausch. Dieser so Sanfte, Scheue, Höfliche! Den Zuschauer aber wegen seiner Eskapaden als »Stück Dreck« beschimpften. Der großartiges Glück hat mit seinem späten Regieglück. Denn an jener Altersschwelle, hinter der die Verdammnisse des Loslassens zu bedenken sind, braucht der Erfolg kein Vorsorgekonto mehr anzulegen. Fritsch zerjuxt als Regisseur Bildungsgut. Er zergrinst Innerlichkeitsgreinen. Er zerhüpft Dramen. Er kalauert hinter allen Klugsätzen eines Dichters und springt ihnen dann urkomisch in den Rhythmus. Er spielt, auf Biegen und Brechen - die Darsteller biegen sich, die gängigen Maßstäbe brechen. Die Bodenhaltung macht den Menschen: Er stürzt, fällt, rutscht. Und wenn er hoch hinaus will, klatscht er kopfüber in den Orchestergraben. Erst die Übertreibung schafft die Autonomie der Spieler. Zu sehen in Meisterwerken wie »Murmel Murmel« und »Die (s)panische Fliege«.

Ob Lessing oder Brecht, Ibsen oder Hauptmann: weiß geschminkte Gesichter mit clownesk gestrichelten Augenpartien und ornamental verzierten Mundgegenden, hoch sich türmende Perücken und breit ausladende Reifröcke. Fritsch ist der Junge, der daran glaubt, man könne Menschen auf der Bühne so herumtoben lassen, dass sie sich vor den Augen der Zuschauer in Comicfiguren eines rasant dahinschießenden Zeichentrickfilms verwandeln. Das Steife steppt, das Hohle spielt Schwerkraft, die Blässe ist ein grellbuntes Treiben. Als müsse man endlich Beckett und Boulevard lechzend verzwirbeln und lüstern verwirbeln. Lustigste Lemuren, graziöseste Gespenster - in diesem Theater stirbt die heilige Getragenheit, und Fritsch vollstreckt das Urteil, er ist der aktuell gültige Nonsensenmann gegen diese schlechte deutsche Laune, die klagend, anklagend so viele Wichtigkeitsklopse und Mahnmumien produziert. Als sei in bitteren Zeiten schon die Vertreibung des puren Spaßes eine Ankunft in rettender Moral.

Hierzulande haben herabgezogene Mundwinkel hierarchische Bedeutung erlangt. Sie sind der überspannte Bogen eines politisierten Trübsinns, der wie ein verkniffener Wachposten vor den Gefängniszellen von Harlekin, Truffaldino und anderen Spaßvögel-Geburten thront. Gestalten, die nur rausdürfen, wenn sie fest an eine höhere Bedeutung gekettet bleiben. Dagegen spielt Herbert Fritsch Theater, vielleicht nur Sternschnuppentheater, aber wie frei, wie unverkrampft, wie anarchisch leicht. Wie unbekümmert in dieser allgegenwärtigen Kümmer- und Sorgenkultur. Bei ihm bekommt keiner, der sich inmitten all der Krisen und Kältegrade fröhlich auf die Schenkel schlägt, Strafhiebe vom Gewissen. 65 wird dieses alte Kind Herbert Fritsch an diesem Mittwoch.

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