»Ein unglaublich barbarischer Krieg«

Alp Kayserilioglu über die Lage im Südosten der Türkei, die Bedingungen für kritische Journalisten und die kurdischen Kräfte

  • Lesedauer: 4 Min.
Alp Kayserilioğlu lebt als freier Schriftsteller, Übersetzer und politischer Aktivist in Istanbul. Über den Krieg im Südosten der Türkei sprach Ismail Küpeli mit ihm.

Du bist mit anderen Journalisten in den Kriegsgebieten im Südosten der Türkei unterwegs. Was habt ihr genau vor?

Wir haben uns als »Lower class magazine« (LCM) dazu entschieden, in diese Kriegsregion zu reisen und vom Staatsterror gegen die kurdische Bevölkerung und die Ausmaße des Krieges in der Südosttürkei und in Nordkurdistan zu berichten. Wir waren und sind nach wie vor der Meinung, dass die Berichterstattung zu der hier ausufernden Gewalt und Barbarei desolat ist und die desaströsen Bedingungen hier nicht widerspiegelt. Uns haben sich einige freie Journalisten angeschlossen, die aus demselben Interesse in die Region reisen wollten. Wir liefern seit unserer Ankunft regelmäßig Reportagen und Berichte aus unterschiedlichen Teilen der Region.

Wie sehen die Arbeitsbedingungen für kritische Journalisten in der Türkei derzeit aus?

Man braucht gar nicht mehr besonders kritisch zu sein als Journalist in diesem Land, um Ärger zu bekommen. Auch dem recht unkritischen Entertainer Beyaz wurde seitens der Polizei gedroht. Der kritisch-liberale Journalist und Chefredakteur der »Cumhuriyet«, Can Dündar, sitzt im Gefängnis. Auf Demonstrationen zum Beispiel in Istanbul werden mittlerweile linke JournalistInnen gezielt von der Polizei identifiziert und bedroht.

Und im Südosten der Türkei?

In den kurdischen Teilen sieht es natürlich um einiges schlimmer aus. Es sind ohnehin meist linke oder kurdische JournalistInnen, die hier arbeiten. Und sie werden in der Regel behandelt wie der Feind, oft willkürlich inhaftiert und gefoltert, manchmal sogar beschossen. Erst am Mittwoch wurde Refik Tekin, ein Kollege vom Nachrichtensender IMC, von einer Kugel im Bein getroffen, als das Militär auf eine zivile Delegation in Cizre das Feuer eröffnete. Auch unser Journalistenteam ist mehrmals polizeilicher Repression und Schikanen ausgesetzt gewesen.

Wie ist die Lage der Bevölkerung in den Kriegsgebieten?

Laut der türkischen Menschenrechtsvereinigung IHD sind in 19 Städten 58 Mal Ausgangssperren verhängt worden. Ungefähr 200.000 Menschen sind von diesen Ausgangssperren betroffen. In den Gebieten herrschte und herrscht ein unglaublich barbarischer Krieg. Ganze Städte wurden permanent mit schwerer Artillerie und Panzern seitens des Staates bombardiert, Scharfschützen wurden überall positioniert.

Gibt es zuverlässige Zahlen zu den zivilen Opfern?

Laut der IHD starben bislang 162 Zivilisten während dem Krieg. Der Umfang der Zerstörung an Infrastruktur lässt sich nicht genau quantifizieren, ist aber, nach meinen eigenen Beobachtungen, immens. In weiten Teilen Silopis zum Beispiel funktioniert das Wasserversorgungssystem nicht mehr, das Stromnetz ist schwer beschädigt. Viele Menschen mussten flüchten, weil ihre Wohnungen zerbombt oder in Schützenstellungen der Sicherheitskräfte umgewandelt wurden. Allein in Diyarbakir sollen 25.000 Personen zwangsemigriert sein, die Rojava-Vereinigung in Idil berichtet davon, dass sie für 1.500 Familien versucht, die nach Idil von Städten wie Cizre geflohen sind, rudimentäre Hilfe zu leisten. Von Staats wegen gibt es bisher nur sehr wenig bis gar keine Unterstützung für die betroffenen Zivilisten.

Wie schätzt Du die Entwicklung ein: Wir sich die Lage weiter verschärfen oder ist eine Beilegung des Konflikts möglich?

Die weitere Kriegsentwicklung ist nicht vorhersehbar. Die kurdischen Kräfte aus Silvan und Silopi haben sich offensichtlich zurückgezogen. Es scheint wahrscheinlich, dass der türkische Staat seine Kräfte, die dort frei geworden sind, nach Idil, Nusaybin oder Sirnak schickt, wo es auch Barrikaden und Gräben aber keine – zumindest offiziellen – Ausgangssperren mehr gibt. In Sur sind vor einer Woche Spezialkommandos einmarschiert und es heißt, dass sich die Gefechte wesentlich verschärft haben.

In den meisten Medien heißt es immer wieder, zum Beispiel in der Nachrichtenagentur dpa, »bei der Offensive gegen die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK« seien »PKK-Kämpfer« getötet worden. Zugleich ist von kurdischen »Selbstverteidigungseinheiten« die Rede.

Was diese so genannten YPS angeht: Das sind zivile Selbstverteidigungseinheiten, die immer mehr die YDG-H, eine Jugendorganisation, ersetzt. Meine Einschätzung von außen ist die: Das sind tatsächlich primär Jugendliche aus den jeweiligen Stadtvierteln, die sich in der YPS organisieren. Zwischen ihnen und der Bevölkerung vor Ort, also denen, die ihre Städte noch nicht verlassen haben, herrscht ein sehr einheitliches und starkes Verhältnis. Einige der Jugendlichen scheinen schon Kampferfahrung zu haben, die sie zum Beispiel in Kobane gemacht haben. Ich hatte außerdem den Eindruck, dass reguläre Guerillaeinheiten der HPG, also der so genannten Volksverteidigungskräfte, des militanten Arms der PKK, strategisch wichtige Koordinierungs- und Organisationsaufgaben übernehmen sowie vermutlich an einigen Stellen auch in die Kämpfe eingreifen.

Alp Kayserilioğlu lebt als freier Schriftsteller, freier Übersetzer und politischer Aktivist in Istanbul und ist einer der Mitautoren von »Kampf um Kobane«. Er hat den Anschlag von Ankara im vergangenen Oktober knapp überlebt. Über den Krieg im Südosten der Türkei sprach Ismail Küpeli mit ihm.

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