Körperstudien in Latex
Im ausgefallenen Café »Tirrée« in Moabit stellt Orlando RV seine »Drip Paintings« aus
Ein leuchtendes weißes Pferd galoppiert unter der Zimmerdecke vorbei. Knapp über den Köpfen der Sitzenden schimmert die papierene Lichtinstallation von Fernando Pérez im Café »Tirrée«. Das Café befindet sich in einem dunkelgrauen Eckhaus an der Moabiter Birkenstraße, davor sind Tische und Sitzblöcke in geometrischen Mustern aufgereiht. Daneben thront eine Zimmerpflanze im blauen Kochtopf auf einem beigefarbenen Puff.
Es ist eine ruhige Gegend. Drinnen flimmert elektronische Musik. Die Wände sind dunkel gestrichen, der Boden ist in Grau und Schwarz gehalten, ab und zu durchstößt ein Rot das Schwarze. In die Theke sind Schnapsgläser eingelassen, die in Blindenschrift angeordnet sind und in Regenbogenfarben leuchtend »Fettiger alter Imbiss« ausbuchstabieren, eine Reminiszenz an den früheren Besitzer der Räumlichkeiten. Es duftet nach Kuchen. Einige Gäste sind schon da. Das »Tirrée« hat Lieblingscafé-Charakter.
Vor knapp drei Jahren hat Stefan Tirree das Café im Birkenkiez eröffnet. Roland Brücher ist ebenfalls von Anfang an dabei, zuständig für »Küche, Ausstattung und Kunst«. Seit der Eröffnung wird im »Tirrée« ausgestellt, denn Brücher habe schon immer eine Leidenschaft für Kunst gehabt. »Für uns ist es schön, was die Ausstellungen mit den Räumen machen. Es verändert jedes Mal das Gesicht des Cafés.«. Eine festgelegte Linie für die Ausstellungen gibt es nicht. »Das muss uns und mir gefallen, weil wir für einen längeren Zeitraum damit leben. Das ist ja auch unser Lebensmittelpunkt hier.« Brücher trägt eine blaue Mütze und einen Dreitagebart über dem grauen Sweatshirt mit neongelbem Aufdruck.
Die Lichtobjekte von Fernando Pérez sind die erste Ausstellung im »Tirrée« gewesen. Den Pferde-Lampenschirm haben sie danach nicht mehr hergeben wollen. »Wir sind beschenkt, dass die Künstler uns ermöglichen, die Räume immer wieder neu und frisch zu gestalten und sich auch auf das kleine Abenteuer hier mit uns einlassen.«
Die Räume im »Tirrée« werden zurzeit von dem Künstler Orlando RV neu interpretiert. Bisher sind von Brücher hauptsächlich lateinamerikanische Künstler ausgestellt worden. Geplant sei das nicht gewesen, es habe sich eher so ergeben
Orlando R. Valdivieso ist in Kolumbien geboren. Seine Ausstellung »Vessels« zeigt vor allem Körper: rauchende Silhouetten aus weißer Latexfarbe auf schwarzem Papier, melancholisch und haptisch, mal matt, mal glänzend, eingefasst in breite rote Rahmungen. Daneben füllt ein weißer Mond den schwarzen Untergrund an der grauen Wand, davor surren verschwommene rötliche Gestalten. Körperstudien in Latex.
Die Technik, die Orlando RV für seine Malerei benutzt, ist das »Drip Painting«, also »getropfte Malerei«. Er selbst sehe sich eher als Handwerker. »Ich hätte eigentlich nie ein Maler werden sollen. Es ist einfach passiert. Mein Vater war eher der frustrierte Maler«, erzählt er. Sein Vater hätte immer Künstler werden wollen, habe letztendlich aber nur in seiner Freizeit gemalt. Valdivieso hat dunkle Augen und trägt ein Hemd, unter dessen Kragen eine Tätowierung hervorschaut. Beim Nachdenken schaut er aus dem Fenster. Er orientiert sich in seiner Malerei am abstrakten Expressionismus, versucht aber, seine Bilder mit der Technik des »Drip Painting« figürlicher werden zu lassen. »Das Interessanteste am Drip Painting ist, dass es größtenteils ein Unfall ist, ein Versehen, es ist zufällig. Eine Poesie des Scheiterns«, sagt er. Als Inspiration sehe Orlando RV allerdings nicht ausschließlich Jackson Pollock an, der berühmt für seine expressionistische Malerei gewesen ist. »Man erwähnt immer weiße westliche Männer, die die Kultur geprägt haben. Dabei gibt es sehr viele Frauen, die ebenso viel geleistet haben, aber vergessen oder nicht anerkannt werden«, erläutert er. Denn eigentlich sei es Janet Sobel gewesen, die »Drip Painting« als erstes für ihre Bilder verwendet habe, noch vor Pollock. Orlando RV gibt ebenfalls Workshops in dieser Maltechnik. Er verwendet dabei nur Latexfarbe, die aufgrund ihrer Dichte ein geeignetes Material ist. »Ich mag die Idee, dass es so ein alltägliches, banales Material ist«, sagt er nachdenklich. »Kaum jemand kommt auf die Idee, mit Wandfarbe etwas Künstlerisches zu machen.«.
Im Café sitzen mittlerweile Gäste an allen Tischen. Laut Roland Brücher seien hier schon viele Freundschaften entstanden. Von Menschen etwa, die schon lange nebeneinander gewohnt haben, sich aber nicht kannten. Man sei hier wie eine Familie. »Man kann Gäste dann schnell mal in den Edeka schicken oder sie lassen sich zwingen, etwas für karitative Zwecke zu kaufen«, sagt er und lacht dabei. »Birkenkiez, das ist halt Heimat.«
Im März eröffnen Stefan Tirree und Robert Brücher ein zweites Café im Kiez, das »Leni«. Die erste Doppelausstellung dafür ist auch schon geplant.
Café »Tirrée«, Birkenstraße 46, Moabit
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