Mittag mit Mielke

Krimi-Autor Ulrich Hinse schöpft für seinen Tatsachenroman aus eigenem Erleben im Kalten Krieg

  • Jürgen Seidel
  • Lesedauer: 3 Min.

Bitte, Herr Fülle«, so Minister Mielke, »nehmen Sie doch bitte neben mir Platz«. Reiner Fülle war sehr stolz auf die besondere Wertschätzung, den Ehrenplatz neben dem Chef der DDR-Staatssicherheit zugewiesen zu bekommen. Und damit nicht genug. Noch vor Beginn des Essens, das der Minister für erfolgreiche, aber von einem Überläufer enttarnte Kundschafter gab, wurden Orden verteilt. Den höchsten von allen bekam Fülle.

Im Auftrag des Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker übergab ihm Staatssicherheitsminister Mielke den Vaterländischen Verdienstorden in Gold. Er habe sich besondere Verdienste erworben im Kampf um die Sicherung des Friedens. Als der Chef die Tafel nach einer guten Stunde aufhob, verabschiedete sich Mielke per Handschlag und klopfte Fülle anerkennend auf die Schulter. »Guter Mann«, murmelte er, »guter Mann«, bevor er verschwand, seinen Adjutanten immer im Schlepptau.

Diese Szene spielt sich kurz vor dem Ende des zweiten Drittels des neuen Buches von Ulrich Hinse ab, der bisher vor allem durch seine Schweriner und Pinnower Krimis mit dem scheinbar vornamenlosen Ermittler »Erster Kriminalhauptkommissar Raschke« sowie durch den historischen Roman über »Das Gold der Templer« bekannt geworden ist

Sein jüngstes Buch mit dem Untertitel »Wenn Opa Raschke erzählt« greift sowohl eigenes Erleben des 2007 pensionierten Kriminalbeamten und Staatsschützers sowie die von Hinse selbst geschaffene Figur des EHK Raschke auf. In einer speziellen Mischung aus Familien- und Spionagegeschichte versucht der seine drei Enkel hütende Großvater ihnen ein weit zurückliegendes Stück deutsch-deutscher Geschichte näherzubringen. Immerhin war Raschke - hinter dem man unschwer zumindest Anteile des tatsächlichen Kriminalisten Hinse enttarnen kann - als junger Ermittler des BKA an der Vernehmung des Rückkehrers beteiligt. Und so berichtet Hinse/Raschke den Jungen über seine Erlebnisse im Kalten Krieg zwischen den beiden sich damals gegenüberstehenden Militärblöcken NATO und Warschauer Vertrag. Zu diesem Kalten Krieg gehörte die gegenseitige Spionage.

Vorbild für die Hauptfigur des Romans war ein tatsächlich existierender »Kundschafter des Friedens«, den der Autor in seinem spannenden Buch bei seinem richtigen Namen nennt: Reiner Paul Fülle, geboren am 26. Dezember 1938 in Zwickau. Seit 1964 für das Ministerium für Staatssicherheit tätig, wird er für seine östlichen Auftraggeber besonders wichtig, als in seiner Arbeitsstelle, dem Forschungsreaktor Karlsruhe, eine Anlage zur Wiederaufarbeitung von Uran und Plutonium gebaut wird. Würde die Bundesrepublik Atombomben bauen, fragte sich der andere deutsche Staat. Bis zu seiner Enttarnung und Verhaftung am 19. Januar 1979 hatte »Klaus«, so sein Deckname, Informationen über seinen brisanten Arbeitsplatz geliefert.

Doch nach seiner Verhaftung kann »Klaus« seinen Verfolgern entkommen und unter abenteuerlichen und zugleich höchst unbequemen Umständen in die DDR fliehen, wo er gefeiert und hoch geehrt, zugleich auch zunehmend misstrauisch beobachtet wird - von den eigenen Genossen. Schließlich wählt er den Weg zurück in den Westen. Und Minister Mielke dürfte einen weiteren Grund gehabt haben, sich zu ärgern. Für die drei Raschke-Enkel jedoch war es eine schöne Geschichte, von deren Art sie gern noch weitere hören würden. Und warum geht es im Titel des Tatsachenromans eigentlich um einen »Glatteisagenten«. Das ist einfach ein Ausrutscher, wie er selbst bei den besten Kriminalbeamten vorkommt. Zumal, wenn es kalt ist. Kalter Krieg zum Beispiel. Aber lesen Sie selbst. Das Mittagessen mit Mielke beginnt übrigens auf Seite 148. Und der Armeegeneral war damals nicht in Uniform erschienen, sondern in Zivil. Einfach so.

Ulrich Hinse. Der Glatteisagent - Eine Geschichte aus der Zeit des Kalten Krieges. Wenn Opa Raschke erzählt. EDITION digital. 236 S., br., 12,80 €.

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