Mein Coming-out als Westler

Im Roten Salon stellt Jakob Hein seinen Schelmenroman »Kaltes Wasser« vor

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Kluft, die der Herbst 1989 zwischen Eltern und Kinder riss, ist in den vergangenen Jahren ausführlich beschrieben und ausgeleuchtet worden. Aber so knapp und lakonisch wie in Jakob Heins neuem Roman »Kaltes Wasser« hat man das Problem wohl noch nirgendwo zusammengefasst gefunden: »So lange die Mauer gestanden hatte«, berichtet Heins Held Friedrich Bender, der wie auch sein Autor 1971 in der DDR geboren wurde, »war ich ein Kind zweier achtbarer Eltern gewesen. Der Fall der Mauer machte mich zu einem jungen Erwachsenen mit zwei Pflegefällen im eigenen Haus. Meine Eltern hatten viel zu schnell aufgegeben. Ihr neues Lebensziel hieß Verteidigung.«

Während aber die verstörten Eltern, ein suspendierter Marxismus-Leninismus-Professor und eine ehemalige Kaderleiterin, sich in ihrer Wohnung verbarrikadieren und hilflos versuchen, die nun auf sie einstürmenden Zumutungen (Versicherungsvertreter, Halsabschneider, Telefonverträge etc.) abzuwehren, stürzt sich der Sohn kopfüber ins Abenteuer. Ein derartiges, sagen wir mal: unternehmerisches Draufgängertum, wie Jakob Hein es uns hier vorführt, dürfte selbst unter Friedrich Benders Altersgenossen beispiellos sein. Aber genau das ist der Witz dieses Buches: Friedrich Bender ist ein Hochstapler vom Format eines Felix Krull, der sich ohne Skrupel zweitausend Mark »Startkapital« aus der Geheimschatulle der Eltern »borgt«, mühelos die Identitäten wechselt und ein derart kreatives Verhältnis zur sogenannten Wirklichkeit unterhält, dass er bald schon ganz oben angekommen ist. Wo auch immer dieses Ganz-oben nun im Einzelfall liegen mag - in der adligen Westberliner High Society oder im Hochhaus eines großen Versicherungsunternehmens -, Friedrich Bender findet sich bestens zurecht, findet überall Anerkennung, jede Menge Sex und überaus gute Laune.

Während Friedrichs Eltern also das Haifischbecken, als das der Westen ihnen erscheinen muss, tunlichst scheuen und allmählich hinter ihren zugezogenen Gardinen vergilben, hat der Sohn schnell erkannt, dass ein Haifischbecken vollkommen ungefährlich und noch dazu ausgesprochen nahrhaft ist. Jedenfalls, wenn man selbst als Hai ins Rennen geht.

Die Bekanntschaft mit dem kalten Wasser, das dem Buch den Titel gab, macht Friedrich allerdings schon vor 1989. Auch als Kind sorgt dieser Junge ganz eigenmächtig für das Maß Unterhaltung, das dem Leben fehlt. Nicht nur, dass er als Agitator seiner Pioniergruppe die langweiligen Nachrichten aus dem »Neuen Deutschland« überaus kreativ zu wahren Räuberpistolen aufhübscht. Nach dem Sommer weiß er auch von einer Ferienlagerfreundin zu berichten, um die ihn alle beneiden: ein Punk-Mädchen aus Bristol, das von den kommunistischen Eltern besuchsweise in die DDR geschickt wurde! Die durch einen Briefwechsel mit echten englischen Marken belegte Liebe ist irgendwann so groß, dass Friedrich selbst an die Existenz jener Emily glaubt. Und hier liegt das Geheimnis seines Erfolgs: einfach fest an das zu glauben, was man sich da so zurechtgebogen und -gelogen hat. Als Kindergartenkind prahlt er vor den Eltern und der genervten Schwester so lange mit seinen Schwimmkünsten, bis die ihn eines Sonntags mit ins Schwimmbad nehmen. Statt aber zu kneifen, stürzt er sich ins Wasser. Und kämpft sich tatsächlich ans andere Ende der Bahn.

Wie aus dem kleinen Friedrich nun also ein ganz großer Fisch wird, das liest sich bei Jakob Hein turbulent und heiter. Wie nebenbei entfaltet sich der charakteristische Wild-West-Charme des Berlin jener Jahre. Durch illegale Geldwechselgeschäfte am Bahnhof Zoo, garniert mit herzerweichenden Lügengeschichten, gelangt Friedrich in kurzer Zeit zur dicken Kohle. Am Kollwitzplatz betreibt er den ersten Szenetreff: in einem ergaunerten, zur Bar umgebauten NVA-Bus. Um sein BWL-Studium ohne den Besuch überfüllter Vorlesungen schon nach zwei Semestern zu einem mehr oder weniger guten Ende zu bringen, genügen ihm ein paar leicht besorgte Stempel und eine simple Einsicht, die überall gilt: »Es ging nicht um die Wahrheit, sondern darum, die Fragen von der erwarteten Antwort aus zu verstehen.« Selbst als irgendwann alles auffliegt, ist Friedrich nicht um eine Erklärung verlegen: »Vor einigen Jahren hatte ich mein Coming-out als Westler. Eines Tages habe ich mir die Ostler angesehen und festgestellt: Ich bin schon lange nicht so wie die. ... Und langsam, nach und nach ist mir klar geworden, dass ich Westler bin.«

Sei’s drum. Einmal enttarnt, ist Friedrichs Ruf ruiniert. Besonders traurig scheint er deswegen nicht zu sein. Vielleicht ist er sogar froh. Denn wer er wirklich war, das hatte er längst vergessen. Am Ende ist er nach Schweden geflohen und scheint dort seine Bestimmung gefunden zu haben: als Schwimmlehrer für ausländische Kinder. Ob sie schwimmen lernen, doziert er zum Schluss, liege einzig an »ihrem unbedingten Glauben daran, dass sie es schaffen werden.«

»Kaltes Wasser« ist Jakob Heins vierzehntes Buch. Man merkt ihm an, dass es von einem Autor stammt, der sein Publikum gern unterhält - seit zwei Jahrzehnten ist der Schriftstellersohn auf Berlins Lesebühnen unterwegs. Im Hauptberuf, nebenbei bemerkt, ist er Kinderpsychiater.

Jakob Hein: Kaltes Wasser. Roman. Galiani Berlin. 240 S., geb., 18,99 €. Buchpremiere mit Musik von Elis Bihn am 4. März, 20 Uhr, im Roten Salon der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz.

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