Alles richtig, vieles falsch
TV-Tipp: »Aus der Haut« ist vielleicht der beste Film über das Coming-out eines schwulen Teenager der letzten 20 Jahre
Rosa von Praunheim, das ist die Matrix seines Daseins, war menschlich und moralisch schon sehr früh sehr viel weiter als die (spieß)bürgerlich biedere Gesellschaft ringsum. Schon 1971 hat der schwule Regisseur dieses fortwährende Missverhältnis zwischen Sollen und Sein, das vernunftbegabte Wesen schier in den Wahnsinn treibt, in den legendär sperrigen Titel »Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt« gegossen. Kein Wunder, dass sein halbfiktionales Szeneporträt, das zwei Jahre nachdem gleichgeschlechtlicher Sex unter Erwachsenen (ab 21 Jahren!) in der Bundesrepublik legalisiert worden war, erschien, heftig angefeindet (und vom BR natürlich zensiert) wurde. Ein Furor, der im Rückblick wirkt wie die letzten Abwehrgefechte gegen Sklaverei und Klassenwahlrecht, aber auch heute noch spürbar ist.
Fragen Sie mal Milan! Der Teenager entdeckt zu Beginn des ARD-Mittwochsfilms, dass er schwul ist, also irgendwie unnormal. Auch im Jahr 2016. Besonders unter Gleichaltrigen, die mit 17 noch mühsam an ihrer Identität feilen, aber auch eine Generation höher, die sich in Milans wohlhabend bildungsaffinen Kreisen gern modern und aufgeklärt gibt, bis Modernität und Aufklärung in Konflikt mit Furcht und Vorurteil geraten. Dieser Milan also, hinreißend zerrissen dargestellt von Merlin Rose (»Als wir träumten«), versucht seinen Kumpel Christoph zu küssen, wird brüsk abgewiesen, befürchtet ein ferngesteuertes Outing, schreibt einen Abschiedsbrief, steigt besoffen in Papas Auto und fliegt kurz darauf in Zeitlupe kopfüber durch sein aufgeräumtes Großstadtviertel.
Wäre »Aus der Haut« zu diesem Zeitpunkt nicht 15, sondern 85 Minuten alt, es könnte das übliche Unhappyend solcher Sozialdramen sein - Betroffenheit, Begräbnis, Schluss. Ist es aber nicht. Weshalb mit dem Erwachen im Krankenhaus, weinende Mutter (Angst um den Sohn) zur Linken, zeternder Vater (Angst um den Wagen) zur Rechten, ein Coming-of-Age-Film mit Coming-out folgt, das selten ist im hiesigen Fernsehen. Nach dem Drehbuch von Jan Braren, der schon im umjubelten »Homevideo« stimmige Empathie für Heranwachsende in Extremsituationen bewiesen hat, schafft es Regisseur Stefan Schaller wie im Porträt »5 Jahre Leben« des deutschen Guantanomo-Häftlings Murat Kurnaz, das Kollabieren einer individuellen Existenz aus der Perspektive des Umfelds zu erzählen, ohne die Hauptfigur zum Objekt vermeintlich autonomer Subjekte zu degradieren, die ja selbst in den Sog der neuen Lage geraten.
Zum Niederknien verkörpert wird dieser milde Zivilisationsbruch besonders durch Claudia Michelsen und Johann von Bülow als Eltern, die alles richtig machen und gerade dabei so vieles falsch. Die bei Milans Homosexualitätsbekenntnis sofort Respekt zollen, Liebe bekunden, gar Schampus servieren - und mit ihrem Unbehagen doch nie hinterm Berg halten können, auch wenn es nicht mehr die Praunheimsche Perversion mit offener Verachtung ist, sondern subtiler daherkommt: kleine Gesten, falsches Lächeln, unkontrollierte Aggression.
Und erst das Umfeld: offen schwulenfeindliche Mitschüler hier, latent homophobe Eltern dort, dazwischen Milans bedauernswerte Freundin Larissa (Nicole Mercedes Müller) als Feigenblatt der Heteronormalität. Sie alle sind mal mehr, mal weniger bemüht, liberal und cool zu wirken, wollen am Ende aber doch lieber nicht mit Milan auf engstem Raum sein. So hält Stefan Schaller dem Publikum einen Spiegel vor, der meist kaum zu bemerken ist und damit nur umso genauer reflektiert, womit selbst aufgeklärte Gemeinwesen kämpfen, wenn die gemütliche Regelexistenz ins Wanken gerät. Und mittendrin Milan, den Kameramann Michael Kotschi zwar ein bisschen penetrant über diverse Fensterscheiben ins Bild setzt, dem Gesamteindruck damit aber keinen Schaden zufügt. Im Gegenteil: Seit Angelina Maccarones »Kommt Mausi raus?!« ist »Aus der Haut« vielleicht das Beste, was in 20 Jahren zum Thema gemacht wurde.
ARD, 9.3., 20.15 Uhr.
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