Flaute bei der Atomenergie
Weltweit gibt es diverse AKW-Neubauten, aber auch Stilllegungen und den Ausstieg ganzer Staaten
Seit Jahren beschwört die Kernkraftlobby eine Renaissance der Atomenergie. Seit Jahren konstatieren Atomkraftgegner, dass diese ausbleibt. Letztere sahen sich nach dem Schock der Katastrophe von Fukushima im Frühjahr 2011 bestätigt: Kaum ein Land würde es nun noch wagen, auf die Atomkraft zu setzen.
Ist die Atomenergie seither weltweit auf dem Rückzug oder gibt es einen Aufschwung, wie Befürworter behaupten? Die Frage lässt sich nicht eindeutig beantworten. Statistiken, die jeweils dahinter stehenden Interessen sowie die Entwicklung in den einzelnen Staaten vermitteln ein widersprüchliches Bild. Der gegenwärtige Zustand lässt sich vielleicht am besten als »Flaute« beschreiben.
Laut der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) waren Anfang des Jahres 442 Atomreaktoren in Betrieb. Allerdings hat die in Wien ansässige Organisation, die laut Statut die »friedliche Nutzung« der Atomkraft fördern soll, die Tendenz, die Zahl der AKW am Netz höher anzugeben, als sie tatsächlich ist. So tauchen in der IAEO-Statistik auch alle 39 japanischen Reaktoren als »operational« (in Betrieb) auf, die nach der Fukushima-Katastrophe abgeschaltet und größtenteils nicht wieder angefahren wurden.
Auf den jährlichen »World Nuclear Industry Status Report« des Energieexperten Mycle Schneider stützen sich die Atomkraftkritiker. Dieser hat unter anderem die japanischen AKW, die derzeit keinen Strom produzieren, nicht mitgezählt und kommt auf 398 betriebene Reaktoren. Das wären zehn mehr als vor einem Jahr - allein acht Blöcke gingen 2015 in China ans Netz -, aber 40 weniger als 2002, als die größte AKW-Anzahl Strom lieferte.
Beim Aufschlüsseln der absoluten Zahlen sind für die einzelnen Kontinente und Staaten unterschiedliche Tendenzen festzustellen. So geht in Amerika und Europa die Zahl der Atomkraftwerke und insbesondere der Neubauten zurück, während in wichtigen asiatischen Ländern und in Russland viele neue Anlagen entstehen. In Asien bauen China, Indien und Südkorea ihre Kapazitäten aus. 37 Meiler wurden hier seit Fukushima in Betrieb genommen oder sind im Bau. Dagegen blieben Australien, Neuseeland und Ozeanien atomkraftfrei. In Afrika gibt es nach wie vor nur ein kommerzielles Atomkraftwerk in Südafrika. Andere Staaten reden hier zwar von einem Einstieg, es ist aber bei Ankündigungen geblieben.
In Amerika hat sich die Anzahl seit Jahren nicht mehr erhöht, in Nordamerika ist sie sogar rückläufig. Die 2012 auch in den USA ausgerufene »nukleare Renaissance« ist mit nur fünf überteuerten und um Jahre verspäteten Neubauten ins Stocken geraten. Wegen niedriger Energiepreise und mangelnder Rentabilität wurden fast alle anderen Neubauprojekte aufgegeben. Gleichzeitig wurden mehrere Reaktoren ganz stillgelegt, vielen weiteren droht das vorzeitige Aus.
In Kanada, wo derzeit noch 19 Blöcke Strom liefern, gibt es keine Neubaupläne. Zuletzt ging hier 1993 ein AKW-Neubau ans Netz. In Mittel- und Südamerika haben einige Staaten nach Fukushima angekündigt, auf die Einführung der Atomkraft zu verzichten. Nur in Argentinien ging 2014 ein neuer Reaktor ans Netz, in Brasilien ist ein zusätzlicher Block geplant.
Die meisten Staaten in Osteuropa wollen ihren Bestand ausbauen, finden aber kaum mehr Investoren. Polen und Tschechien haben ihre Neubaupläne aufgrund zu hoher Kosten verschoben. In Russland werden neue Reaktoren gebaut, im Gegenzug sollen aber alte Blöcke stillgelegt werden. In Westeuropa entschlossen sich Deutschland, Italien, die Schweiz und Belgien infolge von Fukushima zum Ausstieg. Die Schweiz und Belgien nahmen die Beschlüsse aber weitgehend zurück. Deutschland bleibt mit acht großen AKW am Netz nach Frankreich zweitgrößter Atomstrom- und Atommüllproduzent in der EU.
Neubauten gibt es in Großbritannien, Finnland und in Frankreich. Energieministerin Ségolène Royal sprach sich darüber hinaus erst kürzlich für eine Verlängerung der AKW-Laufzeiten um zehn auf 50 Jahre aus.
In Großbritannien soll das AKW Hinkley Point um zwei Blöcke vergrößert werden. Betreiber ist ein Konsortium aus französischen und chinesischen Unternehmen. Im März erteilte die Regierung in London die Baugenehmigung. Die notwendigen Kredite in Höhe von mehr als 20 Milliarden Euro werden durch staatliche Bürgschaften abgesichert. Darüber hinaus sagte die Regierung eine garantierte Vergütung für den Strom aus Hinkley Point zu. Damit ist das Neubauprojekt Europas größtes staatlich gestütztes Industrieprojekt.
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