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Das Wunder von Kalyniwka
Jens Mühling lädt zu einer Reise durch die Ukraine
Als einen »Krieg, der um die Vergangenheit geführt wird«, sieht Jens Mühling den Konflikt um den russisch geprägten ukrainischen Osten. Eine gute Bezeichnung, eine treffende.
Jens Mühling: Schwarze Erde. Eine Reise durch die Ukraine.
Rowohlt. 267 S., geb., 19,95 €.
Selbst wenn es um die Zukunft zu gehen scheint, ist dieser Krieg ohne den Blick zurück nicht zu begreifen. Weil der Autor Geschichte sucht und Geschichten, will er den Entwicklungen und Schicksalen von Menschen nachspüren. Erst war alles sowjetisch, dann russisch, dann ukrainisch, lernt er - »Tschernobyl, Gogol, Breschnew, Borschtsch, die Krim«.
Doch so einfach ist es nicht. Tschernobyl, ja sicher. Gogol? Ein Mann ukrainischer Abkunft, aber russischer Schriftsteller. Und Breschnew, der führende Sowjetmensch und KPdSU-Generalsekretär, der nach Chrustschow kam? Auch der! Sein Geburtsort ist Dniprodserschynsk. Da steckt Dnjepr drin. Der ließe sich für den ukrainischsten aller Flüsse halten, würde er nicht auch durch Russland und Belarus fließen. Auf der Suche nach »Andersartigkeit« der Ukraine drängt sich immer wieder Gemeinsamkeit ins Bild - nicht nur sprachlich. Selbst wenn sich da wer dem Russischen verweigert und dem Englischen zuwendet. Das ist, nebenbei bemerkt, ja auch eine offizielle Präsidentenweisung aus Kiew.
Der Autor steckt im März 2014 als Journalist mitten drin in Geschichte. Die Krim, die ukrainisch war, als er sie betrat, war russisch, als er sie wieder verließ. Zur historischen Dialektik gehört freilich auch, dass die Halbinsel auch russisch wurde, nachdem sie tatarisch war, bevor sie Chrustschow, den viele bis heute für einen Ukrainer halten, der aber Russe war, der Ukraine überschrieb. Was in der Sowjetzeit nettes Symbol sein sollte, wurde Jahrzehnte später neu ausgefochten. Die Ukraine war eben niemals nur sie selbst. Wie der Borschtsch, den Mühling der Ukraine zuschreibt, mindestens auch russisch und belarussisch ist, wie es es einst die Kiewer Rus war.
Der Untertitel »Eine Reise durch die Ukraine« lässt persönliche Beobachtungen erwarten, Gesehenes, Erlebtes und Geschichten dazu. Wie die Ameisenstraße über die Grenze zwischen Polen und der Ukraine. Zwei Schachteln Zigaretten und eine Flasche Schnaps gestattet der Zoll beim Grenzübertritt. Also rüber und wieder zurück, und wieder und wieder ...
Drei bis neun Grenzgänge am Tag. Die Zahl scheidet sie in gute und schlechte. Oder Dilowe als Mittelpunkt Europas. Es ist spannend, wie man darauf kommt, wie man ihn findet und wie es dort aussieht. Das gilt auch für Tscherniwzi. Das war Czernowitz und Cernauti und Tschernowzy. Hier haben die Eltern von Paul Antschel keinen Grabstein. Die Inschrift ist ein Gedicht ihres Sohnes, der ist in Paris als Paul Celan begraben.
Aus solchem Stoff sollen Reisebeschreibungen sein. Details und Impressionen geben Farbe und Spannung, verhelfen zum ganzen Bild und machen neugierig auf mehr. Für galizische Geschichtslektionen gilt das weniger, auch für Grenzziehungen durch die Sieger nach einem Weltkrieg, ja sogar für die kriminalistische Aufarbeitung des Bandera-Todes. Solches lässt sich vom Leser nachschlagen und nachlesen. Geschichtslektionen muss der Reisende nicht zwangsläufig in seine Sprache übertragen.
Über das Didaktische verliert sich das Eigene und vielleicht Einzigartige. So etwas wie die Zuständigkeit für das Wunder von Kalyniwka: »Es hat sich nur historisch so ergeben«, sagt der Pope, dass für das Kreuz die andere Kirche zuständig ist.» Also nicht das Kiewer, sondern das Moskauer Patriarchat. An letzteres fallen damit auch Wunder. Von denen allerdings ist der Chronist ganz einfach hingerissen. Er entdeckt am Sockel eines entsorgten Lenindenkmals die naive Zeichnung eines erschossenen Maidan-Demonstranten mit Engelsflügeln. Davon mag er schwören, so sein Bericht, dass er etwas gesehen habe, das vorher nicht dagewesen sei: ein kleiner goldner Heiligenschein über dem Kopf.
Ein reisender Journalist, für den nüchterne Betrachtung Pflicht wäre, offenbart hier einigen überraschenden Wunderglauben. Quasi zum Ausgleich schwimmt er mit kräftigen Zügen im Mainstream. «Propagandamythen des russischen Fernsehens» über den Donbass mag er auch in Vermittlung durch eine freiwillige ältere russische Fremdenführerin nicht auf den Leim gehen.
Statt jedoch in Nachfrage und Nachforschung Erkenntnis, wenn nicht gar Verständnis zu versuchen, bekennt der Schreiber selbstgefällig: «Ich musste lachen!» Wörtlich genau so wie beim Erscheinen des ersten Traktors im Film «Erde» von Oleksandr Dowschenko. Den klassifiziert Mühling lässig: «Dowschenkos ›Erde‹» dürfte der blauäugigste Film der Welt sein.« Doch in einem eigenen derartigen Anflug lässt der Reisende bei seinem Besuch der Filmstudios in Kiew Äpfel aus dem Obstgarten, den der berühmte Regisseur aus einer Runde mit Eisenstein und Pudowkin selbst bepflanzte, wieder fallen: »Ich hatte Angst, vom Baum der kommunistischen Erkenntnis zu essen.« Ironie, Scherz oder nackte Wahrheit?
Jens Mühling hat eine weite Reise gemacht, viel gesehen, Menschen getroffen. Doch Urteile brachte er mit.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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