Wie das »A« zu seinem Kringel kam

Niels Seibert und Ines Wallrodt haben ein Lexikon der Bewegungssprache erstellt - als Rettungsring für Aktivisten und solche, die es werden wollen

  • Kerstin Ewald
  • Lesedauer: 3 Min.

»Wer A sagt, muss auch einen Kreis drum machen!« Das erste bekannte Foto des umkringelten »A« für Anarchismus knipste ein Fotograf im Spanischen Bürgerkrieg auf dem Helm eines republikanischen Kämpfers.


Niels Seibert / Ines Wallrodt: Murmeln, Mumbeln, Flüstertüte. Lexikon der Bewegungssprache.
Unrast. 128 S., br., 9,80 €.


Solches teils nützliches und teils unterhaltendes Wissen über die zuweilen seltsame Zeichen- und Abkürzungssprache der sozialen Bewegungen der vergangenen 50 Jahre enthält das zur Leipiger Buchmesse erscheinende »Lexikon der Bewegungssprache«. Es wirft Schlaglichter auf deren Theorie und Praxis und beleuchtet auch - dies verraten die biografischen Miniaturen am Ende des Buches - das Leben und Leiden der Autoren und Autorinnen innerhalb derselben. Man kann sich wunderbar vorstellen, wie einige von ihnen in den 1990er Jahren in ost- und westdeutschen Kleinstädten als junge Antifas debütierten, in endlosen Gesprächsrunden in verqualmten Infoläden und autonomen Jugendzentren ihre ersten Demos planten. An den Wänden hing vielleicht das obligatorische »Anna und Arthur«-Plakat, auf dem zwei süße Steppkes zur Aussageverweigerung gegenüber Polizei und Staatsanwälten aufrufen; auch ein Plakat, das die »Freiheit für die Gefangenen aus der RAF« propagierte, gehörte oft zur Ausstattung.

Wahrscheinlich ging es den Autoren wie den meisten bei Eintritt in den rebellischen Arbeitsalltag: Unsicherheiten mit dem Dresscode oder der Szenesprache, die nur so strotzt vor programmatischen Wortumbenennungen - ganz zu schweigen von den vielen Abkürzungen, die anfangs nicht geläufig sind! All dies ließ das sozial bewegte Coming-out bisher zum Hindernislauf werden. Solche Hürden senkt das kleine, handliche und auch etwas augenzwinkernde Lexikon.

Insider werden hier viel Altbekanntes finden, dies aber charmant erzählt. So erklärt ein Artikel zur »Außerparlamentarischen Opposition« und zur späteren Deformation vieler Protagonisten derselben: »Heute träfe auf viele APO-Opas daher eher ein Begriff wie IPO (Innerparlamentarischer Opportunismus) zu, derweil das abgestürzte Sturmgeschütz des Kapitalismus namens FDP nach dem Ausscheiden aus dem Bundestag 2013 den linken Terminus der APO nunmehr fälschlicherweise für sich reklamiert.« Und doch wird jeder Überraschungen in diesem Büchlein finden: Wofür etwa könnte »Astroturfing« stehen - auf Deutsch heißt das so etwas wie »Kunstrasenbewegung«?

Weitere Einsatzmöglichkeiten des Buches? Das Minikompendium könnte - in die Weltsprachen Englisch, Arabisch, Französisch und Spanisch übersetzt - Aktivisten aus aller Welt in die so gewöhnungs- wie erklärungsbedürftigen Gepflogenheiten potenzieller hiesiger Kooperationspartner einweihen. Doch Vorsicht und Alerta! Das Nachschlagewerk könnte auch in unerwünschter Weise integrativ wirken. Etwa in Trainingsprogrammen für Verfassungsschutzspitzel in »linken Zusammenhängen«.

Spezifisch ostdeutsche Basisbewegungen sind hier leider kaum vertreten. Die KvU (»Kirche von Unten«), in der sich 1987 Friedens- und Umweltbewegte zusammenfanden, wird nur kurz erwähnt. Dabei waren die Erfahrungen spannend, die um die Wende gemacht wurden: Zwischen der alten und der neuen Ordnung erlebten viele eine Zeit der Selbstermächtigung. In Basisgruppen, an Runden Tischen, in Schulen und Universitäten wurden Utopien aller Art entworfen. Klar, viel Zeit blieb nicht, einen eigenen Jargon zu entwickeln, doch gibt es wirklich keine Begriffe aus dieser Zeit? Vielleicht liegt hier der Stoff für einen zweiten Band.

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