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Ein Mord in nicht mehr so grauer Vorzeit
Frank Schlösser lässt seinen spannenden Thriller in der Jungsteinzeit spielen, bietet Unterhaltung und Bildung zugleich
Darf ich Sie zu einer Zeitreise einladen? Bitte begeben Sie sich in ein Alpental in einer Gegend, die heute Südtirol heißt. Nehmen Sie am Lagerfeuer Platz. Ihr Gegenüber ist ein in Felle gekleideter Mann von etwa Mitte Dreißig, der freimütig bekennt, oben am Pass des heutigen Ötztals einen Schmied getötet zu haben. Nun erzählt er Ihnen, warum er es tat.
Frank Schlösser: Der letzte Pfeil. Ein Roman aus der Frühzeit.
Emons. 240 S., br., 14,95 €.
Vor etwa 5300 Jahren kommt es in einem Tal der Alpen zu einer schicksalhaften Begegnung. Eine Gruppe von Jägern rettet einem nackten Mann das Leben, der von einem Wolfsrudel attackiert wird. Sie nehmen ihn mit in ihre Siedlung; die Zauberin der Siedlung pflegt ihn gesund. Der Mann ist schon älter und behauptet, Schmied zu sein. Niemand weiß, was ein Schmied macht, also demonstriert er, was er kann. Er sammelt Sonnensteine (Malachit-Azurit-Erz), lässt eine Feuergrube ausheben und die Glut abdecken, bis die Temperatur so hoch ist, dass flüssiges Metall aus dem Stein fließt. Dieses wird in Formen gegossen; so entstehen Messer, Pfeilspitzen, Äxte, Schüsseln und Schmuckgegenstände - von allem mehr, als die Siedlung braucht. Dieser plötzliche Wohlstand zieht Besucher aus anderen Tälern an, die tauschen wollen. Selbst die Abfallstücke aus den Formen erfüllen eine Funktion, sie werden zu einem allgemein anerkannten Tauschwert - heute nennt man es Geld.
Der Schmied wird von den Siedlern verehrt, doch der Ich-Erzähler, Anführer der Jäger und unser Gastgeber am Feuer, liest in seinem Gesicht etwas, was er noch nie an einem Menschen wahrgenommen hat: Der Schmied kann etwas sagen und dabei etwas ganz anderes meinen. Kann man ihm, der offensichtlich klüger ist als die Schamanin und doch von seiner Macht keinen Gebrauch macht, trauen? Und in welcher Beziehung steht er zu einer Horde aus der Nachbarschaft, die ohne Frauen und Kinder lebt, keinen Ackerbau mehr betreibt und vom Raub lebt?
Der Rostocker Autor Frank Schlösser (geb. 1966) hat einen spannenden Thriller geschrieben, der in der Jungsteinzeit spielt und die so genannte graue Vorzeit realistisch koloriert. Die gewählte Erzählperspektive lässt uns Leser in die damalige Lebensweise eintauchen, erfordert vom Autor aber großes Geschick, denn unser Gastgeber am Lagerfeuer kann ja nicht wissen, wie man all die neuen Dinge, die er in dem einen beschriebenen Jahr an der Seite des Schmiedes kennen lernt, heute benennt. Schlösser gelingt es (bis auf einen brettgroßen Schnitzer), die Illusion aufrecht zu erhalten. Man lernt diesen Jäger, der ein liebender Gatte sowie Vater einer Tochter und zweier Söhne ist, kennen und schätzen, versteht seine inneren Konflikte und ist doch stets versucht, die Geschehnisse als Gleichnisse zu lesen. Wie ist es denn heute, wenn eine traditionelle Gesellschaft vom Fortschritt überrollt wird? Wenn sich zeigt, dass nicht jede technische Neuerung Segen bringt, dass mit dem Wohlstand auch Neid und Zwietracht Einzug halten und dass Waffen, die einmal produziert sind, auch angewendet werden? Natürlich weiß unser Gastgeber nicht, dass man den von ihm Getöteten Jahrtausende später finden, archäologisch untersuchen und Ötzi nennen wird.
Bei dem berühmten Ötztalmann hat man tatsächlich jene sorgfältig gearbeitete Pfeilspitze gefunden, auf die der Titel des Romans anspielt. Sie ist aus Feuerstein, nicht aus Kupfer, sie war der letzte verzweifelte Versuch, die Zeit zurückzudrehen. Frank Schlössers in mehrfacher Hinsicht fesselndes Buch vom Übergang der steinzeitlichen Siedlungen in die Bronzezeit bietet Unterhaltung und Bildung zugleich und ist jedem heutigen Leser ab 14 Jahren zu empfehlen.
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