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Kreatouren im All-Tag
Reinhard Jirgl macht jedes Wort zum Sinnsprengsatz
Nach dem Ende der DDR blühende Landschaften? Nein, ein anderes Gelände: »Digitale-Netzwerke, Öko-Logismus & privates Glück - daraus dann diese Mittelstand’s Kreatouren hoch&breit daherkommen mit ihren faden Tragödchen um Karriere Kindermachen & Konsum, grundiert von Herrschsucht & Perfekzionierungs-Wahn - ein saueres Biedermeier.« Reinhard Jirgls Roman »Oben das Feuer, unten der Berg« erzählt ostdeutsches Leben als Dämonie eines beständigen Drucks; einmal ist im Buch die Rede davon, den Staat von seinen Verbrechen her zu verstehen. Diesen einen Staat - aber unbedingt auch die strukturellen Verlängerungen seines gespenstischen Wesens ins vereinte Land hinein.
Reinhard Jirgl: Oben das Feuer, unten der Berg.
Roman. C. Hanser. 288 S., geb., 22,90 €.
Eine Vermisstenanzeige. Wo ist Theresa Berger? Sie passt gut ins Raster einer Serie grausamer Frauenmorde. Damit startet der Roman sein expressives Rennen. Furiose Archaik, seltsamste Fantasien, gnadenlose Aufrechnung: Noch die edelste Gesellschaftstheorie endet als zwielichtige Geschäftsidee. Die Handlung: zwischen 1956, dem Geburtsjahr von Theresa, und 2013, dem Zeitpunkt ihres Verschwindens. DDR-Vergangenheit als Härtestschlag: die Liquidation der Eltern, weil sie eine hohe rote Nazikarriere aufdeckten; das Leben der Tochter unter Staatsvisier - aber: Sie hat Zugang zu enthüllenden Geheimarchiven. »DeDeR« und »eSEhDE«: Spinnennetz der Bürokratie, das Spitzelmyzel, der Kerker-Kommunismus, das Kinderheim-Elend mit »Er-Zieh-Herrin«, der Verrat und die Verblendung, dazu der Konflikt der Gläubigen zwischen Ideal und Idioten. Bedrängende Macht- und Ohnmachtsbilder.
Der Roman brodelt, er huldigt tempokeuchend einem allgewaltigen Zerwürfnis: Die Vergangenheit schwärt, greift sich alle Biographien, um sie einem Inferno der Werte zuzuliefern - das sich einst Sozialismus und nunmehr Demokratie nennen mag. Irre. Logisch. Sinnlich. Da ist noch ein Bruder Theresas, da ist viel Rache, da bricht deutsch-deutsche Geschichte auf wie eine dunkel blutende Wunde, und in das alles schiebt sich das wahnwitzigst denkbare Menetekel: Eine Elite, noch zehrend von den Gewinnen des kalten Krieges, plant egoistisch Zukunft. Will sogar die Erde verlassen: »Das 1hellige Ziel: Beseitigung od: besser Zurücklassen aller störenden=Erdbevölkerung in den riesigen Macht=Konglomeraten; dafür Elitenbildung für das-Weiter-Machten=Imall.« So formt sich ein irritierender Mix aus Thriller und Schicksalsdrama. Dicht, bedrückend, unheilschwer.
Den Schluss übernehmen die Horden. Der Aufstand von unten ist ein Kraterauswurf des Abschaums, des Schaumschlags. Das Stupide entdeckt seine Lust, noch stupider zu sein. Das Volk auf dem Wildererweg zurück zum Stamm. Geschichte, ein Kontinuum: »Zeiten=langes Kratzen Wühlen Schaben am Mensch-Sein, wie Baggerschaufeln Abraum aus dem Erd-Reich, um All-Tag aus Rache & Vergeltung ans=Licht zu fördern, hat Menschen verunstaltet«. Was treibt sie an, diese Lumpigen, Leidenden auf den Aschefeldern deutscher Brennpunkte, im Randkomsos Berlins? »Das-Nichts=in-ihnen erstellt Diemacht zum Weitermachen unter Allenbedingungen.« Fazit: Keine Gesellschaft tilgt den Typus des Verkommenen, des rüden Weltverschlingers, den noch jede ehrenwerte Sehnsucht irgendwann ins Verderberische reißt.
Das alles in jener Jirgl-Sprache, die Verstörung nicht nur dem einzelnen Satz auferlegt, sondern vorverlagert in jede Silbe. Jedes einzelne Wort eine Falle, ein Sinnsprengsatz, bevor überhaupt ein Satz sich bilden darf. Wortspielsuchesucht. Spring ab oder springt rein!, anders ist Jirgl-Lektüre nicht möglich. Reinspringen ist Gewinn. Ein Roman ganz ohne vermeintlich geschichtsbürstenden Grobianismus, sondern hoch literarisch und ins natürlich kühne Recht der Literatur gebettet: beim Erzählen von Mensch und Gesellschaft ohne großen Verzug ins Apokalyptische einzuschwenken.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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