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Die Macht der Mythen

Der Vorschlag des Justizministers für ein neues Sexualstrafrecht macht einiges besser, dürfte jedoch neue Probleme schaffen

In Deutschland wird darüber gestritten, was als Vergewaltigung gilt. Dabei geht es um eine banale Anerkennung: Schuld ist der Täter. Bislang ist das nicht so klar. Nun berät das Kabinett.

Wieder und wieder fragen sie sich: Was habe ich falsch gemacht? Warum ist ausgerechnet mir das passiert? Sie machen sich Vorwürfe, weil sie sich nicht gewehrt haben. Viele Frauen, die bei der Berliner Beratungsstelle LARA für vergewaltigte und sexuell belästigte Frauen anrufen, wissen nicht, wie sie mit dem umgehen sollen, was ihnen widerfahren ist. Anzeige erstatten wollen die wenigsten. Im Gegenteil, oft sind sie voller Scham und Schuldgefühle. Es mag im ersten Moment abwegig klingen: »Aber sich selbst eine Mitschuld zu geben, erscheint entlastend, um sich weniger als Opfer zu fühlen«, erklärt LARA-Beraterin Yvonne Halejcio-Lindner.

Die Sozialpädagogin hält jedoch einen weiteren Faktor für wichtiger. Es sind gesellschaftliche Mythen über Vergewaltigung - Mythen, die auf uralten Vorstellungen von weiblicher Verführungskraft und auf patriarchalen Verhältnissen beruhen. Frauen kennen sie aus ihrem sozialen Umfeld, haben sie aber auch selbst verinnerlicht. Vorurteile drücken sich aus in spitzen Nachfragen, warum sie mit diesem Mann überhaupt mitgegangen sei oder in Hinweisen auf den kurzen Rock. »Im Mittelpunkt steht immer das Verhalten des potenziellen Opfers, nicht das des Täters«, kritisiert Halejcio-Lindner. Auch bei der Polizei oder vor Gericht hätten die Frauen oft das Gefühl, dass eine Mitschuld erfragt wird. Die 32-Jährige spricht von »sexualisierter«, nicht von »sexueller Gewalt«, denn zuvorderst gehe es bei diesen Übergriffen um Macht und Demütigung. Sex ist Mittel, nicht Zweck.

Bei LARA suchen Frauen jedes Alters und Hintergrunds professionelle Hilfe - vom Mädchen bis zur Rentnerin. Die Beraterinnen halten gar nichts davon, sie von einem bestimmten Vorgehen wie etwa einer Anzeige zu überzeugen. Vielmehr versuchen die Beraterinnen, gemeinsam herauszufinden, was das Beste sein könnte. Ist es der Gang zur Polizei, finden sie das gut, aber es ist nicht ihr Ziel. Denn der Rechtsweg ist riskant. »Er kann Teil der Bewältigung sein oder zusätzliche Belastung«, sagt Halejcio-Lindner. Wenn nämlich am Ende ein Richterspruch steht, der ihnen mitteilt, dass das, was ihnen geschehen ist, gar nicht als Vergewaltigung gilt. »Das kann ein zweiter Schock sein.«

Lediglich acht Prozent der ohnehin wenigen angezeigten Vergewaltigungen führen zu einer Verurteilung. Seit Jahren drängen Frauenvertretungen deshalb darauf, »Schutzlücken« zu schließen und die sexuelle Selbstbestimmung voraussetzungslos zu schützen. »Die Bevölkerung fiel aus allen Wolken, als sich herausstellte, dass sexuelle Übergriffe wie am Kölner Hauptbahnhof nicht unbedingt strafbar sind oder dass sich das Opfer wehren muss, damit der Übergriff als Vergewaltigung gilt«, sagt die Vorsitzende der Kommission Strafrecht des Deutschen Juristinnenbundes, Dagmar Freudenberg. »Ethisch-moralische Überzeugungen in der Bevölkerung und das Recht klaffen hier deutlich auseinander.« Die Staatsanwältin hat viele Jahre Sexualstrafsachen bearbeitet. Heute setzt sie im Landespräventionsrat Niedersachsen die Opferschutzkonzeption des Landes um. Der Juristinnenbund hat die aktuelle Reformdebatte maßgeblich ins Rollen gebracht, als er nach Inkrafttreten der Istanbul-Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen im Sommer 2014 Änderungen an der deutschen Rechtslage forderte.

Nach geltendem Recht gilt als Vergewaltigung, wenn ein Täter Sex mit Gewalt oder »Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben« erzwingt oder sich das Opfer in einer schutzlosen Lage befindet. Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, ist eine sexuelle Handlung - auch wenn sie gegen den erklärten Willen des Opfers geschieht - nicht als Vergewaltigung strafbar. Von Gerichten wird dieser Passus zudem noch besonders eng ausgelegt. So müssen die Opfer aktiv Gegenmaßnahmen ergriffen, sich körperlich gewehrt und um Hilfe gerufen haben. Von anderen Delikten sind solche Verhaltensanforderungen nicht bekannt: Wer bei einem Überfall Geld und Handy ohne Zögern herausgibt, dem ist Verständnis sicher, wahrscheinlich gilt eine defensive Reaktion sogar als besonders klug.

An den typischen Situationen, in denen sexuelle Übergriffe stattfinden, geht das deutsche Sexualstrafrecht vorbei: So sind Täter in der Regel Bekannte, zu denen ein Vertrauensverhältnis besteht. Tatort ist häufig die eigene Wohnung, nicht ein abgeschiedenes Waldstück. Opfer reagieren gerade nicht mit Flucht oder Widerstand, sondern mit Schockstarre und Lähmung. Betroffenenberaterin Halejcio-Lindner vergleicht die Situation mit der Tierwelt: »Schockstarre ist eine normale Reaktion auf eine lebensbedrohliche Lage.« Um ihr zu entrinnen, spalten Menschen einen Teil ihres Ichs ab. Dieser Schutzmechanismus wirkt auch bei schweren Unfällen.

Beratungsstellen wie LARA sind entschieden parteiisch. Sie spielen nicht Polizei und versuchen nicht zu ermitteln, was genau vorgefallen ist. Sie glauben den Frauen, die sich bei ihnen melden. Parteilichkeit ist Voraussetzung für Krisenberatung und psychologische Betreuung. Aber gehört diese Haltung in einen Gerichtssaal? Kritiker werfen den Befürwortern einer Strafrechtsänderung vor, sie würden der Frau die Definitionsmacht zusprechen und auf »objektiv nachprüfbare Tatbestände« verzichten wollen. Viele Szenarien seien weniger eindeutig als behauptet - Schockstarre zum Beispiel von Laien nicht immer als solche zu erkennen. Der opferparteiliche Ansatz sei richtig im persönlichen Umgang, betont Christian Bahls in einem Beitrag auf der Internetseite des Vereins Mogis, aber nicht in einem rechtsstaatlichen Verfahren. Sonst würde die Unschuldsvermutung ausgehebelt.

Bahls ist eine ungewöhnliche Stimme unter den Kritikern der geplanten Verschärfung des Sexualstrafrechts. Er wurde als Kind sexuell missbraucht und hat sich mit anderen Betroffenen in dem Verein Mogis zusammengeschlossen, der unter anderem in der Debatte um Kinderpornografie im Bündnis mit Bürgerrechtlern und der Netzgemeinde gegen das Modell Internetsperren Front machte. Feministinnen wirft er insbesondere vor, das »berechtigte Bedürfnis« von Männern, nicht wegen Vergewaltigung falsch beschuldigt zu werden, zu ignorieren. Genährt wird diese Sorge von tragischen Fällen wie dem des Lehrers Horst Arnold, der fünf Jahre unschuldig im Gefängnis saß, weil eine Kollegin eine Vergewaltigung erfand. Selbst nach seiner rechtlichen Rehabilitierung Jahre später wurde er nicht wieder angestellt, auch Schmerzensgeld bekam er bis zu seinem plötzlichen Tod nicht gezahlt.

Trotz solcher Beispiele dürfte die Angst von Männer irrational groß sein. Yvonne Halejcio-Lindner ärgert die mitschwingende Annahme, Frauen seien rachsüchtige, kalt lügende Wesen, die Männern mit existenzvernichtenden Anschuldigungen schaden wollten. Sie ist überzeugt, dass sich eine Frau eine Vergewaltigung in der Regel nicht ausdenkt. Dafür ist ein Gerichtsverfahren zu belastend und der Ausgang bekanntermaßen alles andere als sicher. Auch Dagmar Freudenberg weist den Vorwurf zurück. »Echte Falschbeschuldigungen kommen nur selten vor«, sagt sie. Untersuchungen gehen von drei bis sieben Prozent aus. Häufiger seien Fälle, in denen die Beweislage unklar bleibt. Und dann gelte selbstverständlich die Unschuldsvermutung.

Unter Strafrechtlern und in der Richterschaft ist die Reform heftig umstritten. Nicht wenige sind gegen jedwede Änderungen, darunter einflussreiche Juristen wie der Vorsitzende Richter am Bundesgerichtshof, Thomas Fischer, der für die enge Auslegung des Vergewaltigungsparagrafen maßgeblich verantwortlich gemacht wird. Er räumt mögliche Fehlentscheidungen in seinem Haus ein - gesetzliche Schutzlücken sieht er jedoch nicht. Aber auch Frauen stehen einer neuerlichen Überarbeitung des Sexualstrafrechts skeptisch gegenüber. Eine prominente Stimme ist die emeritierte Strafrechtsprofessorin Monika Frommel, bis 2011 Direktorin des Instituts für Sanktionsrecht und Kriminologie an der Universität Kiel. Frommel zufolge ist nicht das Gesetz korrekturbedürftig, sondern die Rechtsprechung. So müsse lediglich der bestehende Vergehenstatbestand der »Nötigung zu sexuellen Handlungen« richtig angewendet werden, um in Grenzfällen eine angemessene Strafe zu verhängen. Der Paragraf 240 würde demnach auch greifen, wenn nur mit einem »empfindlichen Übel« gedroht wurde, argumentiert sie.

In der Politik hat sich inzwischen die Sichtweise durchgesetzt, dass gesetzliche Schutzlücken bestehen. Die von Justizminister Heiko Maas (SPD) angeschobene Reform des Paragrafen 179 wird von vielen als Schritt in die richtige Richtung gewertet. Das Kabinett will seinen Vorschlag an diesem Mittwoch behandeln. Nach dem bislang bekannten Referentenentwurf wäre künftig eindeutig strafbar, wenn der Täter ein »Überraschungsmoment« ausnutzt. Zudem soll reichen, dass sich das Opfer subjektiv als schutzlos empfindet, unabhängig davon, ob eine Tür wirklich verschlossen oder keinerlei Hilfe in der Nähe war. Der weiter gehenden Forderung, »jede sexuelle Handlung gegen den erklärten Willen« unter Strafe zu stellen, wollte sich der Minister nicht anschließen. Maas will die Ergebnisse einer Kommission abwarten, die im Frühjahr ihren Abschlussbericht vorlegen will, um zu entscheiden, ob weitere Änderungen nötig sind. Schon aus Zeitgründen wäre der große Wurf in dieser Legislatur nicht mehr zu erwarten.

Die Opposition hat eigene Gesetzentwürfe in den Bundestag eingebracht, die über die Pläne des Justizministers hinaus gehen. Obgleich in der Regel vorsichtig bei Strafrechtsverschärfungen, ist auch die LINKE »unbedingt« für eine Änderung des Strafrechts, wie die frauenpolitische Sprecherin Cornelia Möhring betont. Maas’ Vorschlag geht ihr in einigen Punkten nicht weit genug, an anderen schieße er jedoch »über das Ziel hinaus«. Dass die Furcht vor einem empfindlichen Übel für eine Strafbarkeit reichen soll - unabhängig davon, ob sich die Frau gewehrt oder Nein gesagt hat -, findet Möhring ähnlich problematisch wie Kritiker Bahls. »Einmal reicht Nein nicht aus, einmal ist es nicht notwendig. Das bringt mehr Probleme mit sich, als es löst«, warnt die LINKE-Politikerin. Ihre Fraktion verwendet deshalb lieber die Formulierung »gegen den erkennbaren Willen«, weil ein Nein zwar auf verschiedene Weise, aber doch eindeutig ausgedrückt werden könne.

Aber selbst wenn die griffige Formel »Nein heißt Nein« in Gesetzesform gegossen würde, dürfte sich an der Zahl der Verurteilungen gar nicht so viel ändern. Der Juristinnenbund sieht das ganz nüchtern: »Die Beweissituation verbessert sich dadurch nicht«, so Dagmar Freudenberg. Sexuelle Übergriffe bleiben in der Regel Zweiersituationen und dann steht Aussage gegen Aussage. Auch Probleme, die aus Wertvorstellungen oder alten Rollenverständnissen entstehen, würden dadurch nicht behoben. »Wobei eine neue Rechtslage gerade hierauf mittelfristig Einfluss nehmen kann«, ist Freudenberg überzeugt.

Gemessen an Emotionalität und Vehemenz der Debatte, klingen die erwarteten Verbesserungen bescheiden. Tatsächlich verbindet sich mit ihnen jedoch ein fundamentaler Wandel. Es geht um die Macht der Mythen. Darum ist die Auseinandersetzung auch für LARA-Beraterin Halejcio-Lindner so wichtig. »Damit wäre klar: Die Schuld liegt beim Täter.« Diese Anerkennung hätte Symbolkraft. Und irgendwann auch praktische Folgen.

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