Belgien in der Schockstarre

Noch finden keine unbequemen Diskussionen nach den Brüsseler Attentaten statt

  • Kay Wagner, Brüssel
  • Lesedauer: 4 Min.
Razzien im Norden, Süden und Westen von Brüssel - die Suche nach logistischen und politischen Ursachen der Krise steht noch aus.

«Die massive Militärpräsenz hat das doppelte Blutbad von Dienstag nicht verhindern können.» Die Brüsseler Zeitung «La Dernière Heure» legt den Finger am Tag nach den Anschlägen von Brüssel in die Wunde. Alle Vorsichtsmaßnahmen - so kann man den Satz auch formulieren - haben nichts genützt. Weder die höchste, noch die zweithöchste Terrorwarnstufe, noch das massive Polizeiaufgebot, noch die Soldaten auf den Straßen und auf dem Flughafen Zaventem.

Doch statt den Finger in der Wunde umzudrehen und zu fragen, warum alle Vorsichtsmaßnahmen nichts genützt haben, begnügt sich der Leitartikler mit der Feststellung: «Wir haben uns also nur virtuell in Sicherheit wiegen können.» Etwas weiter ging die Zeitung «Le Soir»: Gab es keine Geheimdienstinformationen, die auf die unmittelbare Bedrohung schließen ließen, fragte sie. Hätte das nationale Krisenzentrum nach der Ergreifung von Salah Abdeslam, dem fieberhaft gesuchten angeblichen Mittäter der Attentate von Paris, nicht schon am Tag der Festnahme, also am Freitag, die höchste Terrorwarnstufe ausrufen müssen?

«Le Soir» stand mit diesen kritischen Fragen am Mittwoch ziemlich alleine da. In der öffentlichen Diskussion spielten sie keine Rolle. Viel zu sehr war Belgien noch mit den Folgen der Attentate beschäftigt. Und der Aufklärung des genauen Hergangs. Was war genau passiert auf dem Flughafen, was in der U-Bahn-Station Maelbeek? Wer sind die drei Männer, die noch am Dienstag auf ersten Fotos als potenzielle Attentäter ausgemacht worden waren? Wie viele Opfer gibt es genau? Diese Fragen beschäftigen Belgien und im besonderen Brüssel.

Hier brausten den ganzen Tag über Polizeiautos mit heulenden Sirenen durch die Straßen. Vorbei an den anderen Autos, die meist im Schritttempo in langen Staus ihrem Ziel entgegenrollten. Gerüchte machten die Runde: Ein Attentäter sei gefasst. Wenig später das Dementi der «Dernière Heure», die diese Nachricht in die Welt gesetzt hatte.

Und Entscheidungen wurden getroffen: Der Flughafen blieb geschlossen, das Fußball-Freundschaftsspiel im Brüsseler Stadion «Roi Baudouin zwischen Belgien und Portugal wurde abgesagt, eine Schweigeminute um zwölf Uhr verordnet. Tausende nahmen an ihr auf dem Börsenvorplatz im Brüsseler Stadtzentrum teil.

Auch der französische Gast, Premierminister Manuel Valls, stellte zumindest öffentlich keine unbequemen Fragen an seine Gastgeber. Seite an Seite mit Belgiens Ministerpräsident Charles Michel und dem belgischen Königspaar nahm er in der EU-Kommission an der Schweigeminute für die Opfer teil.

Ob er im Anschluss in den Gesprächen mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und vielleicht auch noch mit Michel doch die Fragen gestellt hat, die man in Frankreich schon deutlicher als in Belgien formuliert, wird zunächst das Geheimnis dieser Männer bleiben. Denn es ist erstaunlich, dass trotz vier Monaten Fahndungsarbeit die Anschläge quasi ohne Vorwarnung stattfinden und zumindest die Attentäter vom Flughafen von einer Wohnung in der Brüsseler Stadtgemeinde Schaerbeek aufbrechen konnten. Völlig unbehelligt. Dass dabei die Schuld nicht allein die belgischen Behörden treffen muss, machten Kommentare in Deutschland und Frankreich klar. In den belgischen Diskussionen spielte das am Mittwoch keine Rolle. Das Thema »Schuld« fand einfach (noch) nicht statt.

Neben der Aufarbeitung der Ereignisse - wobei die Gefahr für die Atomkraftwerke auch nicht mehr angesprochen wurde und die Bekennernachricht des Islamischen Staates als solche schnell akzeptiert und weiter nicht mehr diskutiert wurde - stellten zumindest Zeitungskommentatoren die Frage, wie es jetzt weiter gehen soll. »Nichts wird mehr sein wie vorher«, in dieser Aussage waren sich mehrere Leitartikler einig. Die meisten riefen trotz Wut und Trauer zur Mäßigung auf. Nur gemeinsam könne die gesamte Gesellschaft, also auch die Muslime, die Barbarei besiegen, die in Brüssel ihr grässliches Gesicht gezeigt habe. »Das müssen wir schon aus Rücksicht auf unsere demokratischen Werte so angehen«, so der Tenor der Blätter.

Doch es gibt auch rauere Stimmen. So forderte die Wirtschaftszeitung »L'Echo«, die Verbreitung der Scharia in Belgien strafrechtlich zu verfolgen. Sie sei, ob man es wolle oder nicht, der Grund für den fanatischen Hass der Attentäter. Und wieder »La Dernière Heure« sieht die Zeit gekommen, das »Übel an den Wurzeln zu packen«. Auch mit schweren Geschützen. An Geld dürfe so ein Vorgehen nicht scheitern.

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