Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht

Haben Religion und Glaube in einer von den Naturwissenschaften entzauberten Welt überhaupt noch Platz? Ein Antwortversuch

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 7 Min.

In diesen Tagen feiern Christen das Osterfest. Der Grundgedanke von Ostern ist der der Auferstehung, der Überwindung des Todes, der Wiedergeburt, des Sieges des Lichts über die Dunkelheit. Vorchristliche Religionen zelebrierten mit dem Fest den Wiederbeginn des Lebens im Frühling nach dem kargen, leblosen Winter. Es scheint also so zu sein, dass in der Vorstellung der Menschen vom Kommen und Werden des Lebens kein Platz für Endlichkeit ist. Wenn in der Natur in jedem Jahr alles wieder von Neuem beginnt, warum soll es sich mit der menschlichen und - überhaupt - mit der Existenz von Allem anders verhalten?

Und Gott sprach: Es werde Licht! und es ward Licht (Erstes Buch Mose, 1,3). Bei diesem Satz aus dem Anfangskapitel der Genesis kommt einem unwillkürlich das Bild des Urknalls in den Sinn. Astronomen datieren jenen Vorgang, bei dem aus dem Nichts - einer Singularität - Raum, Materie und Zeit entstanden, auf einen Zeitpunkt, der rund 14 Milliarden in der Vergangenheit liegt. Alles, was wir beobachten und messen können, lässt sich auf dieses Ereignis zurückzuführen.

Lesestoff - nicht nur zu Ostern

- Hubertus Halbfas: Das Christenhaus – Literarische Anfragen, Patmos Verlag, Ostfildern 2015, 274 S., 30 €. Hubertus Halbfas zeigt in seiner Textsammlung, wie sehr in Geschichte wie Gegenwart christliche Glaubenslehre dem Zweifel, der Ablehnung, der Wertschätzung wie der Missachtung unterzogen wurden und werden. Konsequenterweise führt er die Aufsätze, Schriften und Gedanken von Theologen (u.a. Meister Eckhart, Dietrich Bonhoeffer) und radikalen Religions- und Kirchenkritikern (u.a. Karl Marx, Friedrich Schiller, Georg Büchner, Heinrich Heine, Günter Grass, Søren Kierkekaard) zur These zusammen, dass sich Theologie heute am ehesten durch Theologiekritik begründen lässt.
- Hubertus Halbfas: Der Herr ist nicht im Himmel – Sprachstörungen in der Rede von Gott, Schriften zur Glaubensreform, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2013, 48 S., 9,99 €.

Alles Leben auf der Erde folgt den Naturgesetzen, die mit dem Urknall in die Welt kamen, und soweit wir wissen, verhält es sich außerhalb der Erde im unendlich großen Rest des Universums nicht anders. Überall finden sich Strukturen, die sich einander ähneln. Beschleunigt man die Bewegung eine Spiralgalaxie, dann bewegt sie sich im Zeitraffer durch den Raum, ähnlich wie ein Wirbelsturm auf der Erde in Kreisform über die Ozeane zieht. Auf mikrokosmischer Ebene umkreisen Elektronen den weit entfernten Atomkern wie Planeten eine Sonne. Galaxien wiederum formieren sich zu Clustern und spinnen gleichsam Netze durch den Kosmos; aus einer hypothetisch existierenden Ferne betrachtet sieht das Universum aus wie ein Pilzgeflecht.

Was wäre, wenn der Kosmos nicht nur eine Ansammlung von Milliarden von Galaxien ist, die durch dunkle Materie und dunkle Energie zusammengehalten werden, sondern ein gigantischer Superorganismus? Es gibt Gedankenspiele von Astronomen, in denen hat diese Vorstellung durchaus ihren Platz. Das, was wir Urknall nennen, ist demnach lediglich der Herzschlag zwischen einer Billion Jahren Expansion und Kontraktion des Kosmos. Und Planeten, Galaxien, selbst Schwarze Löcher sind nur winzige Teilchen dieses Lebewesens. So wie ein Bakterium, das im Darm Nahrungsbestandteile, die der Magen nicht verwerten kann, zerlegt, kein Bewusstsein über die Gesamtheit des menschlichen Organismus besitzt, hätte jedoch auch im Superorganismus Kosmos kein Wesen, das einen Planeten bevölkert, eine genaue Vorstellung vom Plan der Schöpfung.

Schöpfung? Ja, Schöpfung! Der Urknall gehört zu den Dingen, die wir weder erfahren noch zu erkennen vermögen; der menschliche Verstand kann sich diesem Phänomen wissenschaftlich nähern, der Schöpfungsgedanke verleiht ihm dagegen Sinn. Neurowissenschaftler gehen davon aus, dass Religion eine Erfindung unseres Gehirns ist, das nach Ordnung und Sinn strebt. Die Gewalten der Natur, ihr scheinbar unkalkulierbares Erscheinen, der Blitz, der unvermittelt in den Baum einschlägt, das Wüten des Sturms, die vernichtende Kraft des Feuers und des Wassers - all das, was man nicht ändern kann, was rational nicht erklärbar, aber bedrohlich ist, macht weniger Angst, wenn man dafür einem Wesen jenseits dieser Welt die Verantwortung überträgt. Und erst recht ist der Tod leichter zu akzeptieren, wenn er mit der Vorstellung verbunden ist, dass er nicht das Ende, sondern der Übergang in eine andere Welt, in eine andere Existenz ist.

Wissenschaft ist Erkenntnis, Wissen über die Gesetzmäßigkeiten der Welt, Glaube ist die Suche nach dem Sinn in einer als chaotisch empfundenen Welt. Schon der Mythos ist Aufklärung, heißt es in der »Dialektik der Aufklärung« von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. »Der Mythos wollte berichten, nennen, den Ursprung sagen: damit aber darstellen, festhalten, erklären.« In jeder Religion gibt es solche Mythen. In der hinduistischen Mythologie in Indien wird die Welt von acht Elefanten getragen. Erdbeben erklärten sich Inder früher damit, dass einer der Elefanten, der die Welt seit unendlicher Zeit auf seinem Rücken trägt, sich dann und wann eine Ruhepause gönnt und sich hinlegt. In Japan wähnte man einen riesigen, im Schlamm unter der Erde lebenden Wels mit seinen heftigen, zuckenden Bewegungen als Verursacher von Beben.

Solche religiöse Vorstellungen sind längst von der Wissenschaft als Trugbilder entlarvt. Der Mechanismus von Wissenschaft aber - oder, anders ausgedrückt: der der Aufklärung - bedient sich des Prinzips der zersetzenden Rationalität, die jegliche argumentative Kritik an ihr unmöglich macht. »Auf welche Mythen der Widerstand sich immer berufen mag, schon dadurch, dass sie in solchem Gegensatz zu Argumenten werden, bekennen sie sich zum Prinzip der zersetzenden Rationalität, das sie der Aufklärung vorwerfen. Aufklärung ist totalitär.« (Adorno/Horkheimer: »Dialektik der Aufklärung«)

Das Prinzip der Rationalität kennt allerdings kein Dogma. Noch zu Beginn des 20. Jahrhundert waren Astronomen davon überzeugt, dass das Universum aus einer einzigen Galaxie besteht. Dann entdeckte der Astronom Edwin Hubble, dass es weitere Galaxien im Universum gibt. Heute wissen wir, dass die Zahl der Galaxien in die Milliarden geht. Erkenntnis hat keine Grenze, Wissen kennt kein Höchstmaß, nur Veränderung und Erweiterung. Wir haben mit Hilfe der Wissenschaft erkannt, warum Blitze am Himmel zucken, warum es Erdbeben gibt (die nichts mit acht Elefanten zu tun haben, die die Welt tragen, oder mit einem Wels unter der Erde), warum es Überschwemmung, warum es Vulkanausbrüche gibt. Was aber existiert jenseits der schwarzen Löcher? Gibt es jenseits der schwarzen Löcher, wie einige Astronomen vermuten, »Babyuniversen«, »gezeugt« und »geboren« von »unserem« Universum? Ähnlich wie den Menschen der Steinzeit der Glaube an Geisterwesen die Angst nahm, wenn der Berg Feuer spuckte oder Seuchen wüteten, wird die Angst vor dem Ungewissen, vor der Unberechenbarkeit, dem Chaos der Welt gedämpft, wenn man sich hinter dem Ereignishorizont eines schwarzen Loches Gott vorstellt.

Der Glaube an einen personalisierten Gottes als alter Mann mit wallendem weißen Haar ist jedoch unzeitgemäß. Nur noch religiöse Fundamentalisten, Eiferer, Bibelfetischisten und ihre radikalen Antipoden, die naiven Atheisten, halten an der Vorstellung (bzw. am Vorwurf) eines personalisierten Gottes fest. Der katholische Theologe Hubertus Halbfas hat sich schon beizeiten von diesem Gottesbild entfernt - und sich dafür manchen Ärger mit der Amtskirche eingehandelt. Für Empörung bei Bischöfen und Kardinälen wie Priestern sorgte vor mehr als 40 Jahren seine Interpretation von Bibelstellen als Versuche des menschlichen Verstandes, in symbolischen Metaphern Trost und Hoffnung zu finden. In seinem jüngsten Buch »Das Christenhaus« radikalisiert er diese These. »Wer nach Gott fragt, fragt nach sich selbst und nach dieser Welt.« Inzwischen wüssten es sogar Theologen: »Es gibt keine verlässliche und eindeutige Gottperson. Der Gott, wie er sich in Liedern und Gebeten, in Bildern und Riten darstellt, ist samt all seiner vermeintlichen Eigenschaften - allmächtig, allwissend, allgütig - unglaubwürdig geworden.«

Psychologie und Neurologie, meinte Hubertus Halbfas sinngemäß bereits in seinem 2013 erschienenen Essay »Der Herr ist nicht im Himmel - Sprachstörungen in der Rede von Gott«, haben die Vorstellung eines äußerlichen Gottes, der als übermenschliche Instanz wirkt und bestimmt, widerlegt. »Was von ›droben‹ verlautet, kommt keineswegs von dort, sondern lässt sich plausibel von ›unten‹ erklären. Visionäre Erfahrungen, lehrt die Psychologie, spielen sich nicht in der äußeren Realität ab, sondern im Innern eines Menschen.

Halbfas beruft sich dabei nicht nur auf die Wissenschaft, er findet sein Argument in der Kirchengeschichte belegt. Schon der Theologe Eckhart von Hochheim (Meister Eckhart), habe Ende des 13. Jahrhunderts gelehrt, «dass ›Gott‹ weder Güte noch Sein noch Wahrheit noch Eins ist», dass er «weder Form noch Bild noch Namen hat und dem Nichts gleich wird». «Dieses ›Nichts‹ zu erfahren, so Halbfas weiter, sei »vielleicht die äußerste und höchste (Erfahrung), zu welcher der Mensch fähig ist«.

Und rund sieben Jahrhundert später zweifelte und verzweifelte ein anderer großer Theologe auf ähnliche Weise an der Gottesvorstellung. Dietrich Bonhoeffer schrieb 1944 in einem Brief aus dem Gefängnis Berlin-Tegel: Gott sei als moralisch, politisch, naturwissenschaftliche Arbeitshypothese abgeschafft und überwunden. Es gehöre zur intellektuellen Redlichkeit, diese Arbeitshypothese fallen zu lassen. »Der Gott, der uns in der Welt leben lässt ohne die Arbeitshypothese Gott, ist der Gott, vor dem wir dauernd stehen. Von und mit Gott leben wir ohne Gott (...) Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht.« Das klingt verwirrend. Ist die Verwirrung aber nicht der erste Schritt zur Erkenntnis?

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