Auschwitz oder: Glück ist Pflicht
Zum Tode des Literatur-Nobelpreisträgers Imre Kertész
Wer nicht über Auschwitz nachdenkt, kann nicht über Gott nachdenken, also nicht über den Menschen. Auschwitz erscheint uns noch im gleichmütig-ätherischen Lächeln der Mona Lisa, seine Leichen türmen sich hinterm Isenheimer Altar.
Für diese peinigende Wahrheit wurde das Werk von Imre Kertész zum wahrscheinlich aufstörendsten Erlebnis der Neuzeit - seine erzählende Prosa (»Roman eines Schicksallosen«, »Fiasko«, »Kaddisch für ein ungeborenes Kind«, »Liquidation«), der Essayband »Eine Gedankenlänge Stille, während das Erschießungskommando neu lädt«; die Notizbücher »Das Galeerentagebuch«, »Ich - ein anderer«, »Letzte Einkehr«. Kertész-Lektüre ist ein beunruhigendes Erlebnis. Der Ungar, der von sich sagt, er sei »ein Medium für den Geist von Auschwitz«, ist in Tagebuch, Reflexion und Roman dem auf der Spur, was wir das Unbegreifliche der Geschichte nennen: den Millionen Toten des 20. Jahrhunderts.
Kertész sieht einen erschütternden, erschreckend kühnen Zusammenhang zwischen seiner Erfahrung im Konzentrationslager und seiner Überlebensfähigkeit danach: Ihm, der seit 1953 als freier Schriftsteller in Budapest lebte, habe die Existenz im Stalinismus geholfen, »ich blieb weiterhin fremd, verdächtig, verfolgt, isoliert - so garantierten mir die Kommunisten die Fortsetzung einer Gefangenschaft, ich fühlte mich heimisch«. Der traumatisierte Autor sah sich nach Krieg und Befreiung gleichsam aufgehoben als Teil einer gefangenen Nation, als Häftling in einer eingesperrten Gesellschaft. »Ich bin das unverbesserliche Kind von Diktaturen; meine Besonderheit ist das Gebrandmarktsein. Es ist meine unerklärlichste, zugleich aber wahrhaftigste Erfahrung auf Erden, mein Elend, mein Kapital.«
Leben nicht als Widerstands- und Aufbauexperiment nach der Katastrophe, sondern als geradezu kaltes Befolgen einer einzigen Erkenntnis: »Das in einem höheren Sinne begriffene Heil des Menschen liegt für mich außerhalb seiner geschichtlichen Existenz - jedoch nicht in der Vermeidung geschichtlicher Erfahrungen, im Gegenteil, in ihrem Erleben, ihrer Aneignung und der tragischen Identifizierung mit ihnen.« Tragische Identifizierung? Was Kertész meint, ähnelt der Haltung Pascals, der sich wunderte, dass jemand nachts schlafen könne, wenn ihm einfiele, dass Christus für ihn gestorben sei.
Kertész sah im Ausnahmeverbrechen Auschwitz eine Daseinsform des Mordens, die zur »generellen Möglichkeit des Menschen« wurde, es ist eine auch uns Heutige einschließende »Erfahrungsnorm«. Diese Norm hat für ihn sämtliche Zeitalter des Staunens, der Ehrfurcht, der Andacht, der Freude und der Liebe abgelöst. Jenes Jahrtausende alte Erleben und Erleiden des menschlichen Schicksals, »einst Quelle tiefsten Wissens, ohne das nichts Schöpferisches vorstellbar ist«, habe in unserem Zeitalter »die verzerrteste, unproduktivste Form angenommen - es wurde auf die Schauplätze des Massenmords, in die Lager oder die Verhörzimmer der Geheimpolizei verbannt«.
Die Deutlichkeit und Kompromisslosigkeit, mit der dieses literarische Werk Verlorenheit ausdrückt, ist erschütternd unverrückbar, aber just diese Klarheit immunisiert zugleich gegen die Versuchung, sich formlos aufzugeben im gefühlten Elend. Da hat also ein Mensch alle Ausweglosigkeit als Gift des Seins angenommen, aber seine Schriften, die dies erzählen und fragend umkreisen, sind doch als Gegengifte destilliert. Freilich nicht, indem diese Bücher die gesellschaftssprengende Alternative versuchen und unterstützen, sondern indem sie im Angesicht der Unvollkommenheit der Welt gewissermaßen dazu aufrufen, in dieser Unvollkommenheit »wie ein Fremder auf das eigene Leben zu sehen und es trotzdem bis zum letzten Tropfen in sich aufzusaugen«.
Für Kertész lag das Unbegreifliche darin, dass der gigantische Mord, organisiert im Namen des Volkes, im Jahrhundert der Diktaturen so exakt und so unausweichlich genau an jenen euphorischen Moment gekoppelt war, in dem eine entfesselte Masse glaubte, den befreienden Sinn der Geschichte entdeckt zu haben. Utopie und Barbarei als Kompagnons. Für diese furchtbar eisige Realität wurde er der originäre Autor »mit dem Instinkt eines ausgesetzten Hundes« (Michael Krüger). Der begreifen musste, was er überlebte. Wir nun stehen vor der Aufgabe zu begreifen, was wir vor der Schattenwand dieses 20. Jahrhunderts leben. Die nicht wankt. Kertész: »Wer sähe heute nicht, dass die Demokratie der von ihr selbst errichteten Wertordnung nicht mehr genügen kann oder will; wer sähe nicht, dass niemand Ideale errichtet, um deretwillen es sich zu leben lohnt.«
Geboren wurde Kertész an einem 9. November. Deutscher geht es nicht: Ein Jude wird geboren. Dass es 1929 in Budapest geschah, war nicht Rettung, es war Aufschub. Budapest, Buchenwald - ein Stationendrama. Ein Endstationendrama, fast. Als Kertész 2002 den Nobelpreis für Literatur erhielt, stand plötzlich ein Schriftsteller im Blickpunkt der Öffentlichkeit, dessen Werk bislang eher zum leisen Geist der europäischen Literatur gezählt hatte. Anfang der siebziger Jahre war der preisgekrönte »Roman eines Schicksallosen« nach dreizehnjähriger Arbeit fertiggestellt und 1976 in Ungarn veröffentlicht worden. Erst zwanzig Jahre später war es ein großer deutscher Erfolg. Der Roman erzählt die (stark autobigrafisch gefärbte!) Geschichte des knapp fünfzehnjährigen Köves Györgyi, der nach Auschwitz und nach Buchenwald verschleppt wird. Die Todes-Industrie, betrachtet aus den Augen der Unschuld. Als ginge da einer, mitten im Grauen, doch »nur« durchs ganz gewöhnliche Leben. Ja, die Hölle ist dem Jungen das ganz gewöhnliche Leben, denn: Er hat kein anderes. Also lebt er, staunend, unaufgeregt, grausam kindlich.
Kertész erzählt gnadenlos unpathetisch, beinahe heiter. Als habe sich Eichendorffs Taugenichts verlaufen. Auch im KZ gilt der Satz von Albert Camus, dass Glück Pflicht sei. Was nichts Entsetzlicheres bedeutet, als unter allen Umständen so zu leben, als sei jeder Schritt ein Segen. Der Verstand rennt weg, die Seele aber sucht die Sonne. Oder beide wechseln sich ab. Das ist die einzig mögliche Auflehnung gegen das Unabänderliche. »Es gibt keine Absurdität, die man nicht ganz natürlich leben kann.« Roman-Sätze auf Wanderungen durch die Landschaft der Schornsteine. Dieser schwer hinzunehmende Ton ist es, der das Buch, der diesen Ungarn so skandalös und so aufwühlend macht.
Als Ich-Erzähler Köves Györgyi bei Kriegsende von den Faschisten befreit wird und nach Budapest zurückkehrt, begegnet er einem Fremden (Verleger, Politiker, Lehrer?), der ihn bittet, unbedingt von seinen Leiden zu berichten, denn diese seien nicht mehr nur seine persönlichen, sondern nunmehr »unsere, die der ganzen Welt«. Ein Angebot, eine Verpflichtung, eine Aufgabe: Mahnung und Gedenken. Wunden heilen, Lehren ziehen, die bessere Ordnung errichten. Der Fremde gibt Köves einen Zettel. Eine Adresse? Dann dieser Satz des einstigen Häftlings: »Ich wartete noch, bis seine Gestalt im Strudel der Fußgänger verschwand, erst dann warf ich den Zettel weg.«
Mahnung? Gedenken? Man kann Sinnloses nicht mit Sinn befrachten. Kertész hat sich einer ideologisch vorbestimmten Erinnerungskultur konsequent verweigert. Er beugte sich keiner historischen Distanz, keinem einzigen antifaschistisch geprägten Bewältigungsprogramm. Bloß kein Vertrauen in eine geschichtliche Lehre, die das Erlebte einebnet, zuordnet, relativiert. Nur keine Dienstbarkeit für eine höhere Hoffnung, die das Bewusstsein einer bösen Kontinuität zerstört. Bitte keinen Schutz in einer Moral, die heute wärmender Schal, morgen schon wieder Keule sein würde. Also: keinen Verrat der eigenen Erfahrung an die jeweils wechselnden Perspektiven der Gegenwart. Es gibt kein neues Leben, es gibt immer nur die Weiterführung des alten Lebens. Lediglich das treueste Beharren auf die Nichtigkeit der eigenen Existenz vermittelt etwas vom einzig möglichen Stolz des Menschen: allen Gegebenheiten und Vergänglichkeiten nicht auszuweichen. Das Lieblingsmärchen des Nobelpreisträgers war immer »Das hässliche Entlein«.
Nun ist Imre Kertész, Jahrhundertautor einer schier unerträglichen Philosophie, im Alter von 86 Jahren in Budapest gestorben.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.