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Sogar Müllhalden wurden durchforstet

Geheimdienstkarrieren in Deutschland - ein neues Buch von Helmut Müller-Enbergs und Arnim Wagner

  • Wolfgang Schmidt
  • Lesedauer: 4 Min.

Diese Publikation ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil sie sich grundlegend von den Produkten der staatlich gesponserten Aufarbeitungsindustrie zur Geschichte der DDR im Allgemeinen und des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR im Besonderen unterscheidet. Ohne die einseitige Fixierung auf das MfS, ohne vorgegebenen Propagandaauftrag, ohne die Einteilung der Welt in Gut und Böse und auf seriöse historische Forschung gestützt, werden mit den vorgestellten Biografien geschichtliche Abläufe in ihrer ganzen Komplexität und gegenseitigen Bedingtheit exemplarisch sichtbar.

Herausgegeben wurde das Buch von Helmut Müller Enbergs, einer der bekanntesten und profiliertesten Wissenschaftler der Stasi-Unterlagenbehörde, und dem Militärhistoriker Arnim Wagner. Zu ihren neun Ko-Autoren gehören der anerkannte Friedensforscher und Geheimdienstexperte Erich Schmidt-Eenboom und der durch sein beachtenswertes Buch zur »Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit« (KgU) hervorgetretene Historiker Enrico Heitzer. Geschildert werden hier Lebensläufe der »zweiten Reihe« von Geheimdienstmitarbeitern, darunter nicht nur Spione nach klassischer Vorstellung, sondern auch freie Nachrichtenhändler, Propagandafachleute und Ministerialbeamte im Dienste geheimer Politik.

Die Auswahl der Porträts ist allein schon spannend und interessant. Sie verdeutlicht die ohne Gesinnungswechsel nach 1945 im Westen übliche Wiederverwendung von faschistischen Geheimdienstlern und Nazipropagandisten im Kampf gegen den »Bolschewismus«, die Unterwanderung z. B. des bayrischen Verfassungsschutzes durch eine »Sonderverbindung« der Organisation Gehlen, die geheimdienstliche Verbandelung der psychologischen Kriegsführung des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen, die Geschäftstüchtigkeit eines Nachrichtenhändlers, der zehn staatliche und fünf nichtstaatliche Geheimdienste u. a. mit auf Müllhalden der Sowjettruppen in Österreich und selbst aus der Kanalisation gefischten Materials belieferte, die Karriere eines Mehrfachagenten, die im besetzten Frankreich mit Kontakten zum Sicherheitsdienst der SS begann usw. usf.

Geschildert wird der Werdegang von Heinrich von zur Mühlen alias Dr. Hoffmann, der in den besetzten Gebieten der Sowjetunion zunächst in einer SS-Einsatzgruppe an Beutezügen auf Akten und Kulturgüter beteiligt war und sich danach als Spezialist für psychologische Kriegsführung gegen die Rote Armee profilierte. Nach 1945 arbeitete er für den britischen Geheimdienst, für die Organisation Gehlen und den mit ihr konkurrierenden Friedrich-Wilhelm-Heinz-Dienst, bis er 1948 maßgeblich an der Gründung der KgU beteiligt war und deren Geheimdienstsektion leitete. Dort unterhielt er auch Kontakte zu sogenannten Stay-behind-Netzwerken in der sowjetischen Besatzungszone, die in einem Kriegsfall im Rücken der sowjetischen Armee kämpfen sollten. 1951 wurde von zur Mühlen aus der KgU gedrängt, wobei es auch darum gegangen sein soll, ob den antikommunistischen Widerstand diskreditierende Sabotage- und Gewalthandlungen auf dem Territorium der DDR zum Repertoire der KgU gehören sollten. Solche Skrupel kennt die bundesdeutsche Justiz bis heute nicht; sie verteidigt noch immer die zweifelhafte Ehre der KgU-Terroristen.

Die Herausgeber bestätigen die Aussage der internationalen HVA-Konferenz in Odense 2007, wonach das MfS den Krieg der Geheimdienste gewonnen, den Kalten Krieg aber verloren habe. Allein die in diesem Buch skizzierte Biografie des Stellvertretenden Chefs des Militärischen Abschirmdienstes der Bundesrepublik, der 1969 bis 1985 für das MfS gearbeitet hat und nur eine von mehreren hochkarätigen Quellen des MfS in den westdeutschen Geheimdiensten war, belegt diese Aussage anschaulich. 160 der zuletzt 180 Agenten des Bundesnachrichtendienstes in der DDR sollen vom MfS gegengesteuert gewesen sein. Dass deren Auslands- und Gegenspionage auch von Rückschlägen begleitet war, zeigt das hier beschriebene Schicksal des ersten Residenten der HVA in Frankreich, der schon nach zwei Jahren enttarnt wurde und erst nach mehr als acht Jahren Haft in französischen Gefängnissen ausgetauscht werden konnte. Die Schilderung des immensen Aufwandes, den das MfS betrieben hatte, um eine US-amerikanische Militärspionin in Dresden letztlich dann doch aufzuspüren, offenbart, wie langwierig und schwierig Geheimdienstarbeit häufig ist.

Dem Buch liegen umfangreiche Quellenangaben und Literaturhinweise zugrunde, darunter - keinesfalls selbstverständlich - auch DDR-Literatur bzw. Publikationen von Zeitzeugen aus der DDR. Nicht immer war die Quellenauswahl glücklich, z. B. wenn die infame Behauptung von Henry Leide kolportiert wird, der Umgang mit NS-Tätern in der DDR sei »nicht durch den unbedingten Willen zur grundsätzlichen Ahndung von NS-Gewaltdelikten« bestimmt gewesen. Oder wenn ein gelungener Mordanschlag des MfS auf den »Fluchthelfer« Michael Gartenschläger unterstellt wird, obwohl die verdächtigten MfS-Angehörigen von bundesdeutschen Gerichten in dieser Sache freigesprochen wurden.

Die Herausgeber und Autoren profitieren von der weitgehenden Freigabe der US-Geheimdienstarchive für die Nachkriegszeit und den bescheidenen Einblicken in Archive der bundesdeutschen Geheimdienste im Zusammenhang mit der Aufarbeitung von deren braunen Vergangenheit. Alles in allem bietet das Buch Einblicke in wahrhaftige und lebendige Geschichte und ist nicht nur Insidern als lesenswert zu empfehlen.

Helmut Müller-Enbergs/Arnim Wagner (Hg.): Spione und Nachrichtenhändler. 1939 - 1989. Ch. Links Verlag, Berlin 2016. 376 S., geb., 25 €.

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