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Wollte Ulbricht den Stalinismus überwinden?
Mit »Diskutieren über die DDR« legten Andreas Heyer und seine Mitautoren zwei lesenswerte Bände vor
Der Jubilar, dem diese Festschrift zu seinem 75. Geburtstag gewidmet ist, ist ein Kind der DDR, war dort ein anerkannter Hochschullehrer, dank eines gewonnenen Arbeitsgerichtsprozesses sogar über das Ende seines Staates hinaus. Was ihn zusätzlich auszeichnet, ist die Art und Weise, wie er nach 1990 in seinen Artikeln, Aufsätzen und Büchern der wissenschaftlichen Verpflichtung, ganz im Geiste von Karl Marx, gerecht wurde, sich immer wieder radikal-kritisch mit den »Erbärmlichkeiten« des ersten frühsozialistischen Versuchs auseinanderzusetzen.
Denn der Blick zurück in die Geschichte will und soll bekanntlich dazu dienen, sich über mögliche zukünftige Entwicklungen zu verständigen. Das ist zweifellos entschieden schwieriger in einem Fall, wo die Rückschau sich mit einem epochalen Versagen - im Kleinen wie Großem - befassen muss. Diesem Problem entspricht in kongenialer Weise die Zusammensetzung der Autoren dieser zwei Bände, vortrefflich eingeleitet vom Herausgeber Andreas Heyer.
Den Einstieg zum »Diskutieren« über die DDR liefert Karl-Heinz Schulmeister, der über Prokops jüngste Arbeiten über den Kulturbund manch interessantes Detail beisteuert. Carl-Jürgen Kaltenborn bietet ein Statement zum Problem, warum der Blick in die Vergangenheit nur dann dem Erahnen von Zukünftigen dient, wenn er hilft, anstehende Entscheidungen im Heute zu treffen. Stefan Bollinger erörtert die mysteriöse Karriere des Begriffs »Revolution« für die »Wende« ’89. Erinnerungen auffrischend stellt sich der westdeutsche Politologe Peter Joachim Lapp dem Dresdener Prozess gegen Hans Modrow wegen Wahlfälschung. Heinz Karl resümiert die Mehrheitsposition zu den Leistungen und Grenzen der DDR. Lesenswert ebenso die Dokumentation über die Abwicklung der Akademie der Wissenschaften aus der Feder von Herbert Wöltke nebst Gespräch mit Herbert Hörz, dem ehemaligen Präsidenten der Leibniz-Sozietät.
Nach persönlicher Katharsis und langem Schweigen dürfte der Text von Alfred Kosing, einem führenden DDR-Philosophen, über »DDR-Sozialismus zwischen Stalinismus und Reformbestrebungen« auf besonderes Interesse stoßen. Während er sich im ersten Teil wohl zur Selbstverständigung mit der Vorgeschichte der Arbeiterbewegung und der Frühgeschichte der DDR befasst, folgt im zweiten Teil seine Antwort auf die spannende Frage, ob Ulbrichts Reformpolitik einer Überwindung des Stalinismus in der DDR dienlich gewesen wäre. Kosing folgt der marxistischen Ansicht von der Offenheit und Alternativität der Geschichte, die sich im Zusammenhang mit der vom XX. Parteitag der KPdSU gebotenen realen Chance zur Überwindung des Stalinismus bewies. Damit war auch für die DDR ein Zeitfenster eröffnet, das Ulbricht und sein reformwilliges Umfeld zu nutzen suchten. Als Lehrstuhlleiter an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED erlangte er damals tiefere Einsichten in das Ringen um ein modernes, tragfähiges Konzept zur Gestaltung einer echten sozialistischen Gesellschaft und kann bestätigen: Es ging damals um weit mehr als nur um das Neue Ökonomische System, was dazu führte, dass die 1960er Jahre zu den besten der DDR wurden. Und dies trotz der Widersprüchlichkeiten der Politik und den Widerständen stalinistisch verknöcherter Gegner der Reform um Honecker & Co., die letztlich - nach dem Sturz von Chruschtschow und mit Billigung der KPdSU-Führung unter Leonid Breschnew - den frühsozialistischen Gesellschaftsversuch in den Untergang steuerten.
Den abschließenden Satz Kosings, »dass sich auch eine starke sozialistische DDR nach dem Zerfall der Sowjetunion nicht hätte behaupten können«, kann ich in dieser apodiktischen Form aber nicht akzeptieren. Eine Debatte zu der unter Wissenschaftlern zwar nicht sehr beliebten Frage »Was wäre, wenn ...?« dürfte höchst anregend sein.
Andreas Heyer (Hg.): Diskutieren über die DDR. Festschrift für Siegfried Prokop. 2 Bde. Books on Demand, Norderstedt 2015. je Bd. 212 S., br., je 12 €.
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