»Man müsste was tun, Erwin. Jetzt.«

»Wie wir leben wollen« - 28 Autorinnen und Autoren verfassten »Texte für Solidarität und Freiheit«

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 7 Min.

Im Titel ist eine Herausforderung. Vielleicht sogar der Ruf nach gesellschaftlicher Veränderung, auf jeden Fall ein Appell an den Leser, sich zu diesem »Wir« in Beziehung zu setzen. Als ob es dieses »Wir« wirklich gäbe, als ob die Vorstellungen vom Leben hier und heute nicht weit auseinandergehen würden. Wie will ich leben? Wie verhält sich meine Entscheidung (so ich sie überhaupt treffen konnte) zu den Wünschen anderer? Und inwieweit habe ich denn die Verfügungsmacht über mein Leben? Wir - diesbezüglich klebt am Personalpronomen kein Zweifel - sind ungefragt in dieses Leben geworfen und werden irgendwann herausgerissen, wobei wir hoffen, dass dies nicht allzu gewaltsam, schmerzvoll geschehen möge. Ist die Aufregung anderweitig womöglich deshalb so groß, weil wir an diesem entscheidenden Punkt so ohnmächtig ausgeliefert sind? Ja, müsste man manches vom menschlichen Tun und Lassen nicht im Zusammenhang mit dieser Ohnmacht sehen?

»Texte für Solidarität und Freiheit« - der Untertitel lässt politisch eingreifende Literatur erwarten. Viel zu wenig gibt es davon. Vielleicht wegen bereits genannter unterschiedlicher Vorstellungen vom gewünschten Leben, aber vor allem, weil viele unsicher sind, ob die eigene Stellungnahme etwas bewirkt.

Die Honorare werden für die Flüchtlingshilfe gespendet, kündigt Herausgeber Matthias Jügler an. Löblich, aber ein Tropfen auf den heißen Stein, wenn Flüchtlinge monatelang in Lagern auf die Genehmigung ihrer Asylanträge warten müssen, so sie überhaupt genehmigt werden. Wie Heuchelei erscheint es inzwischen, wenn aus den Regierungsparteien der Ruf nach Willkommenskultur kommt, während an der griechisch-mazedonischen Grenze Tränengas und Gummigeschosse eingesetzt werden. Und wie geht es jenen Verzweifelten, die von der Polizei auf die Schiffe gen Türkei gezwungen werden?

Will sagen: Die Realität hat inzwischen viel schärfere Konturen, als es in diesem Buch zum Ausdruck kommen konnte. Was das Lob für Matthias Jügler nicht schmälern soll, dessen Idee es war. Nur vier Beiträge sind vorher in kürzeren oder längeren Fassungen publiziert worden. Das heißt, 24 wurden extra für diesen Band verfasst. »Innerhalb weniger Stunden, in denen ich telefoniert und Mails geschrieben habe«, so Matthias Jügler auf Anfrage, »hatte ich die Hälfte der Beitragenden zusammen, die anderen kamen innerhalb der nächsten Tage. Abgesagt haben nur zwei, die kurz vor der Fertigstellung ihres aktuellen Romans standen.«

Themen und literarische Qualität sind unterschiedlich. »Texte für Solidarität«: Das heißt auch gegen etwas, das ganz verschiedene Gesichter hat. Bis zu Fremdenhass, gar Rassismus muss es nicht einmal kommen; oft ist es »nur« ein emotionales Ressentiment, eine tiefsitzende Angst vor imaginärer Bedrohung oder einfach nur vor Veränderung von etwas Gewohntem. Da ist es interessant, wie Stephan Thome, der seine zweite Heimat auf Taiwan hat, auf China Mitte des 19. Jahrhunderts verweist, wo die immer stärker werdenden westlichen Einflüsse zu wütenden Reaktionen führten.

Abwehr einer Umbruchsituation, eines Epochenwechsels - wobei es in einer dynamischen Gesellschaft wie der unsrigen selbstverständlich sein dürfte, dass nichts bleibt, wie es ist. Aber anders als die Chinesen damals gegenüber den westlichen Ausländern haben wir doch schon lange ein schlechtes Gewissen, wenn wir Bilder hungernder Menschen sehen, während hier die durch Völlerei verursachten Krankheiten zunehmen. Die Verdammten dieser Erde - nehmen sie sich irgendwann ihr Recht? Das schlechte Gewissen nährt die Sorge, das eigene kleine Leben irgendwann nicht mehr so gemütlich weiterführen zu können, weil es anderswo berechtigte Ansprüche gibt auf all die Segnungen, die vielen hier selbstverständlich sind. Nicht allen - das muss man auch bedenken.

Die kapitalistische Ideologie hat es geschafft, der Mittelschicht zu suggerieren, es sei ihre Schuld, dass andere Menschen weniger oder fast nichts zum Leben haben, so dass schon Kindern, wenn sie ihren Teller nicht leer essen wollen, der Hunger in Afrika vor Augen gehalten wird. Wer sich schuldig fühlt, klagt nicht an, zumal angewiesen auf Verkauf der Arbeitskraft. Teilhabe statt Ausgrenzung - das hält Menschen in Zaum. Hartz IV als Drohung für jeden. Eine Gesellschaft, die auf Konkurrenz basiert und Schwächere an den Rand drückt, produziert massenhafte Kränkung und Ängste. »Es kommt zu einem Aufeinandertreffen der Vernachlässigten und der Ausgestoßenen«, schreibt Roman Ehrlich.

Wobei das Vernachlässigtsein manchmal nur ein Gefühl ist. Besitz geht eben oft nicht mit Befriedigung, sondern mit Neid einher - auf den Nachbarn, der vielleicht ein größeres Auto hat, den Kollegen, der befördert wurde. So wird die tatsächliche, gravierende soziale Ungerechtigkeit verniedlicht, ins Private getrieben.

Dass sich ein immenser Reichtum in nur wenigen Händen konzentriert, wird immer mal wieder gesagt, auch dass ein Bruchteil dieses Reichtums den Hunger in der Welt stillen könnte. Von der Verantwortung der Superreichen ist hin und wieder die Rede, aber es sieht nicht so aus, dass sie zu mehr Verteilungsgerechtigkeit gezwungen werden könnten. Wenn Menschen durch Kriege in die Flucht getrieben werden, hat das fast immer mit versteckten Profitinteressen zu tun. Und wenn von Freiheit und Demokratie die Rede ist, vom notwendigen Sturz einer Diktatur, wenn von systemtreuen Medien Revolutionen bejubelt werden, ist zu vermuten, dass ein Szenario politischer Destabilisierung dahintersteckt zum Nutzen geopolitischer und ökonomischer Interessen des Kapitals.

Sicher, Fluchtbewegungen hat es schon immer gegeben. Mehrere Erzählungen im Band beschäftigen sich damit. Die Mutter von Bov Bjerg war 1946 aus dem Böhmischen gekommen. In Jan Brandts Familiengeschichte gibt es Auswanderung in die USA. Franziska Hauser stellt uns Irmchen Petereit aus Königsberg vor, die sich bei den Großeltern als Haushaltshilfe verdingte und keine eigene Familie gründen konnte. »Dass sich wenig geändert hatte in den Hierarchien« - Recht hat sie, und man kann ihr für das Wort »Hierarchien« dankbar sein. Denn darum geht es im Großen wie im Kleinen. Wer hat was? Wer ist wem überlegen? Wer muss sich erst mühsam »hocharbeiten«? Wer profitiert davon?

Saša Stanišić, der 1992 mit seinen Eltern aus Bosnien nach Heidelberg kam, hat es aus dem Ortsteil Emmertsgrund, wo viel Flüchtlinge und Arme wohnten, an die Universität geschafft, bis zu zahlreichen Literaturpreisen, wie man weiß. Philipp Rusch (1981 geboren in Köln, mit indischen und italienischen Wurzeln) wurde als Kind bei einem Urlaub in Bayern von einem Gastwirt verjagt: »Hier wird nicht gebettelt! Raus mit euch Zigeunern.« Sowas bleibt im Gedächtnis, ebenso wie der hellrosa Stift, der Senthuran Varatharajah (geboren 1984 in Sri Lanka) im deutschen Kindergarten mit dem Hinweis »Hautfarbe« auf den Tisch gelegt wurde.

Im Raumschiff »Enterprise« agieren Menschen verschiedener Nationalitäten zusammen, so selbstverständlich, dass es gar nicht bemerkt zu werden braucht. Irgendwann wird es vielleicht überall so sein. Momentan aber zeugt es vom Interesse für den anderen, wenn ein »fremdländisches Aussehen« zu Erkundigung Anlass gibt. Vor allem von Aufrichtigkeit. Dass eine Mutter Fragen zu ihrem Kind scheut, das sie aus Sri Lanka adoptierte, wie Ulrike Draesner in der Erzählung »Das Kind mit den nichtgrünen Augen« eindrucksvoll darstellt, zu verstehen ist es, aber besser wäre es, freimütig zu antworten. Von der Befindlichkeit vor einer solchen Adoption erzählt Kristine Bilkau in »Verlust, Verbundenheit«. Sie ist jetzt sensibler geworden für jegliche Diskriminierung. Als belastend erlebt sie Grenzkontrollen im Zug, bei denen political correctness nicht gilt, sondern Haarfarbe, Hautfarbe Signalwirkung haben.

Was uns Schuldgefühle macht, ist einfach näher herangerückt. »Wer in der Festung sitzt«, so nannte Lucy Fricke ihren kurzen Text, der in einem Ferienort auf einer griechischen Insel beginnt und im heimischen Wohnzimmer endet, wo man sich hilflos fühlt angesichts des Elends in der Welt. Hat jemand erwartet, in diesem Buch möge ruhige Gewissheit sein, fänden sich Antworten auf alle Fragen?

»Man müsste was tun, Erwin. Jetzt.« So beginnt ein Monolog von Markus Orths, vielleicht satirisch gemeint, weil der Ich-Erzähler sich am Schluss in der Kneipe einen Weizen und ein Rumpsteak medium bestellt. Dabei geht es diesem Mann doch wie vielen, die nicht wissen, wie mit der Lage umzugehen ist, ja nicht einmal, in welcher Lage sie sich überhaupt befinden.

»Wie wir leben wollen« - zum Buchtitel fällt einem der gleichnamige Song der Gruppe »Tocotronic« ein: »Ich bin in meinem Körper auch nur ein Eindringling«, heißt es da.

Matthias Jügler (Hg.): Wie wir leben wollen. Texte für Solidarität und Freiheit. Suhrkamp. 200 S., br., 10 €.

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