Von der Resterampe zum Vorbild der Integration
Im ländlichen Raum und in strukturschwachen Regionen bleiben von Schließung bedrohte Schulen erhalten - dank der Zuwanderung von Flüchtlingen
Gelsenkirchen, in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg die florierende »Stadt der tausend Feuer« mit fast 400 000 Einwohnern, hat sich in den letzten Jahrzehnten vor allem mit dem eigenen Schrumpfen auseinandergesetzt: Arbeitsplätze wurden gestrichen, die Steuereinnahmen brachen ein, Leute zogen weg. Doch seit 2013 geht es wieder aufwärts. 265 000 Menschen leben derzeit in der Ruhrgebietskommune, 10 000 mehr als noch vor drei Jahren. »Wir müssen unsere Planung auf Wachstum umstellen«, sagt Bildungsdezernent Manfred Beck. Das betrifft gerade seinen Zuständigkeitsbereich. Die geplante Schließung von drei Hauptschulen wurde gestoppt, Grundschulen mit lange rückläufigen Schülerzahlen erhalten nun eine Bestandsgarantie, Gesamtschulen erweitern ihre Kapazität. Der Grund: Es sind mehr Kinder zu versorgen, vor allem aus Zuwandererfamilien.
Etwa 300 000 schulpflichtige Minderjährige sind nach Schätzungen unter den rund eine Million Flüchtlingen, die 2015 nach Deutschland kamen. Allein Nordrhein-Westfalen verzeichnete im vergangenen Jahr zusätzliche 40 000 Schüler, bis Ende 2016 werden erneut 40 000 erwartet. Die Landesregierung will insgesamt fast 6000 neue Lehrer unbefristet einstellen. Die Pädagogen sollen vor allem in den Integrationsklassen arbeiten, die mancherorts auch Willkommensklassen, Förder-, Übergangs-, oder Einstiegsklassen heißen.
Die größten Schwierigkeiten macht der Sprachunterricht, denn die Zusammensetzung dieser speziellen Lerngruppen ist äußerst heterogen. Stammten die meisten Schüler früher aus Rumänien, dem Kosovo oder Bulgarien, kommen sie in jüngster Zeit auch aus Syrien, dem Irak und Afghanistan. Viele Flüchtlingskinder aus den arabischen Ländern können anfangs die lateinischen Buchstaben nicht lesen. Die didaktischen Anforderungen sind hoch, unterschiedlichste Vorkenntnisse und kulturelle Differenzen sind zu berücksichtigen.
Als Vorbild für Integration erweist sich dabei ausgerechnet eine Schulform, die in der Vergangenheit als angebliche »Resterampe« verspottet wurde: die Hauptschule. »Es ist für meine Kollegen und mich nichts Neues, dass 90 Prozent der Schülerschaft einen Migrationshintergrund haben«, betont Heidemarie Brosche. Sie unterrichtet in der Nähe von Augsburg an einer Mittelschule, wie die Hauptschule in Bayern genannt wird. »Wir sind es gewöhnt, mit Heterogenität umzugehen, schon lange haben wir Schüler, die erzählen, wie Familienangehörige und sie selbst geflüchtet sind, und warum: Der Papa hat nicht mehr arbeiten dürfen, der Onkel wurde verfolgt, der Opa ist totgeschossen worden.«
Wie andere Praktiker plädiert Brosche für ein pädagogisches Gesamtkonzept, schon wegen der posttraumatischen Belastungen: »Man kann keine mathematischen Brüche kürzen, wenn die Seele in Aufruhr ist.« An die Schulen gehörten berufsübergreifende Teams aus Lehrern, Sozialarbeitern, Psychologen und Dolmetschern. »Wir fühlen uns oft mehr als Tröster, Dompteure, Therapeuten, Animateure, Begabungsforscher, Streitschlichter denn als Unterrichtende.« Hauptschullehrer wüssten besonders gut, dass einige Kinder und Jugendliche »einen großen Problemrucksack mit sich herumschleppen, dessen Inhalt aus einer fremden Lebenswelt stammt«.
Ähnlich argumentiert Marlis Tepe, die Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Die Schule könne »eine Art Schutzraum« werden, im besten Fall sei sie für Kinder aus Flüchtlingsfamilien ein Ort, an dem sie sich »in einer Gruppe, einer Klasse sicher fühlen, und in dem sie aufmerksam wahrgenommen werden«. Tepe, früher selbst Hauptschullehrerin in Schleswig-Holstein, fordert, dass »der schulpsychologische Dienst verstärkt wird und auch sozialpädagogische Fachkräfte in der Schule sind«.
In den meisten »normalen« Klassen sind die Flüchtlinge bislang noch gar nicht angekommen. Erst wenn diese ihre speziellen Fördergruppen verlassen, beginnt die eigentliche Aufgabe der Integration. In manchen Schulen nehmen die Kinder frühzeitig in einzelnen Stunden am Regelunterricht teil. Ganz gut klappt das in Fächern wie Sport, Musik oder Kunst, weil dort sprachliche Kompetenzen nicht im Vordergrund stehen. Die Situation sei je nach Bundesland sehr verschieden, berichtet GEW-Chefin Tepe. In den Stadtstaaten oder in Nordrhein-Westfalen seien »die Kolleginnen und Kollegen schon sehr lange auf Migration eingestellt, sie haben Handlungs- und Unterrichtserfahrung«. In anderen Regionen mit bisher geringer Zuwanderung, vor allem im Osten Deutschlands, sehe das anders aus.
Die schulische Arbeit mit Flüchtlingskindern bleibt überall eine große Herausforderung. Doch die besten Ideen für eine gelungene Integration verpuffen, wenn die Finanzierung nicht stimmt. Gewerkschafterin Tepe kritisiert das Verhalten der öffentlichen Arbeitgeber, die mit Verweis auf Demografie und »Schuldenbremse« in den letzten Jahren immer weniger Lehrkräfte einstellten. Die große Zahl der neuen Schüler zeige »noch einmal wie in einem Brennglas, dass sich die Länder mit falschen Prioritätensetzungen selbst in eine schwierige Situation manövriert haben«.
Auszubaden haben diese Politik jetzt vor allem die Städte und Gemeinden. »Wir brauchen neue Schulen«, klagt Gelsenkirchens Dezernent Manfred Beck, »aber wie sollen wir das bezahlen?« Angesichts der in strukturschwachen Regionen nach wie vor knappen Kassen verlangt er ein staatliches Sonderprogramm für die Bildung. Der Appell der Kanzlerin, »Wir schaffen das«, lasse sich aus der Perspektive von Bund und Ländern leicht postulieren: »Denn das ›Wir‹ sind letztlich die Kommunen.«
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