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Ein unmarxistisches Manuskript von Marx

Die Entdeckung des »Maschinenfragments« ermöglichte der neuen Linken neue Einsichten in die Arbeitswelt

  • Simon Poelchau
  • Lesedauer: 5 Min.
Die zunehmende Digitalisierung der Arbeitswelt ist ein Prozess, den die frühen Operaisten bereits erfassten. Bei ihrer theoretischen Arbeit half ihnen ein lange verschollener Text von Karl Marx.

Italien Anfang der 1960er Jahre: Der junge Intellektuelle Romano Alquati machte sich mit einigen Mitstreitern auf in die Fabriken. Ihnen ging es jedoch zunächst weniger darum, hinter den Fabriktoren von Fiat und Olivetti zu agitieren, sondern darum, hinter die Kulissen des Produktionsprozesses zu schauen. Der Schreibmaschinenbauer Olivetti mauserte sich damals zum hochmodernen Unternehmen, das einige der ersten Computer herstellte. Beim Autobauer Fiat flammten damals in regelmäßigen Abständen Streiks und Arbeitskämpfe auf.

Was Alquati und Co. vorfanden, waren Fabriken eines neuen Typus. Die Produktion war bereits stark automatisiert, der klassische Facharbeiter verdrängt worden. Zugleich wurde vor allem bei Olivetti im norditalienischen Ivrea deutlich, dass die sogenannte Kopfarbeit einen immer wichtigeren Stellenwert in der Produktion bekam: »Die ›produktive Arbeit‹ definiert sich in der Qualität der ›Informationen‹, die der Arbeiter erarbeitet und an die ›Produktionsmittel‹ weitergibt, wobei dieser Prozess tendenziell ›indirekt‹ und doch vollständig ›vergesellschaftet‹ durch das ›konstante Kapital‹ vermittelt wird«, schrieb Alquati später in seinen Untersuchungen. Die im Produktionsprozess gewonnenen und verarbeiteten Daten wurden so zur »wertschöpfenden Information«.

Dieser Gedankengang war revolutionär für Marxisten wie Alquati, deren Strömung später den Namen Operaismus bekam. Schließlich galt im Marxismus bis dato die menschliche Arbeitskraft allein als Quelle des Werts. Ihr theoretisches Rüstzeug erhielten die Operaisten später jedoch von Karl Marx selbst.

Möglich machte dies die Wiederentdeckung der »Grundrisse«. Im Gegensatz zum Standardwerk von Karl Marx, dem »Kapital«, waren die »Grundrisse« nicht vom großen Ökonomen selbst herausgebracht worden. Stattdessen waren es Vorarbeiten zum »Kapital«, die Marx zwischen Oktober 1857 und Mai 1858 unter großem Zeitdruck angefertigt hatte. Erstmals wurden diese Manuskripte vollständig zwischen den Jahren 1939 und 1941 veröffentlicht. Ein fotomechanischer Nachdruck erschien 1953 im Dietz Verlag.

Die »Grundrisse« eröffneten den Theoretikern der neuen Linken eine Diskussion über die Entstehung und Auslegung des »Kapitals«. Antonio Negri sprach vom »Marx jenseits Marx«. Der frühe Operaist Mario Tronti argumentierte anhand der »Grundrisse«, dass die Arbeiter mit ihren Streiks und Aktionen immer wieder das Kapital zwingen würden, den Produktionsprozess mit Hilfe neuer Technologien umzustrukturieren. Technologische Errungenschaften wurden so von etwas Fortschrittlichem zu einem Mittel des Kapitals im Kampf gegen die Arbeiterklasse.

Besonders ein Abschnitt hatte es den Operaisten angetan: das »Maschinenfragment«. In dem auch etwas sperriger »Fixes Kapital und Entwicklung der Produktivkräfte der Gesellschaft« genannten 20-seitigen Textabschnitt setzt sich Marx mit dem technologischen Fortschritt auseinander. Und kommt - wie einige meinen - zu ganz unmarxistischen Schlüssen.

Denn als wertbildend wird zunächst nur die Arbeit im unmittelbaren Produktionsprozess erachtet. In ihm verändert der Arbeiter mit Hilfe seiner Arbeitskraft und Produktionsmittel Gegenstände, schafft ein neues Produkt, eine neue Ware und somit auch Wert und Mehrwert. Soweit die Theorie vom »Maschinenfragment«. Doch was schreibt Marx in diesem Manuskript?

Dort durchläuft das Produktionsmittel Marx zufolge vom einfachen Werkzeug ausgehend »verschiedene Metamorphosen, deren letzte die Maschine ist oder vielmehr ein automatisches System der Maschinerie«. Durch diesen Automaten, der aus »zahlreichen mechanischen und intellektuellen Organen« besteht, wie Marx schreibt, wird der Mensch quasi aus dem Produktionsprozess verdrängt. Die eigentliche Arbeit dort verrichten nicht mehr die Arbeiter, sondern die Maschinen. Was für die Menschen zu tun bleibt, ist die Wartung und Aufsicht über die Maschinen. Oder mit anderen Worten ausgedrückt: Es ist nicht mehr der Handarbeiter gefragt, der den Teppich selbst knüpft, sondern der Kopfarbeiter, der die Teppichknüpfmaschine erfindet und am Laufen hält.

Ausgehend von dieser These nahmen die späteren Post-Operaisten die kognitiven Aspekte der Arbeit stärker ins Blickfeld. Negri prägte dabei den Begriff der »immateriellen Arbeit«, der vielleicht passender als der alte Arbeitsbergriff für eine Gesellschaft ist, in der es weniger um das Zusammenschrauben von Teilen als viel mehr um das Auswerten von Informationen, das Pflegen von Netzwerken und die Produktion von Wissen in der Arbeitswelt geht. Es geht also um einen Arbeitsbegriff für die zunehmend digitalisierte Welt, in der wir leben.

Ein Begriff ist für Negri und Co. da besonders zentral, den Marx nur einmal im »Maschinenfragment« verwendet: der General Intellect, der allgemeine Verstand. Er besagt, dass die Unternehmen ihre Geschäfte immer auf einem spezifischen Stand der Entwicklung der Produktivkräfte aufbauen können. Sie müssen nicht das Rad von Neuem erfinden. Autobauer können heutzutage etwa auf die über hundert Jahre alte Erfindung des Dieselmotors zurückgreifen, und auch das Internet muss niemand mehr neu entdecken.

Oder um es mit den Worten von Marx zu sagen: »Die Entwicklung des capital fixe zeigt an, bis zu welchem Grade das allgemeine gesellschaftliche Wissen, knowledge, zur unmittelbaren Produktivkraft geworden ist und daher die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebensprozess selbst unter die Kontrolle des general intellect gekommen und ihm gemäß umgeschaffen sind.«

Damit greifen die Unternehmen auch auf etwas zurück, was gemeinhin als »Humankapital« bezeichnet wird. Sie schätzen möglichst hoch gebildete Angestellte, sie stellen Ingenieure ein, die in der Schule drei Fremdsprachen und im Studium das Programmieren erlernt haben. Und sie nutzen Erkenntnisse von Forschern. Denn ohne Halbleiterforschung gäbe es keine Computer, die die Konzerne verwenden könnten, und ohne Angestellte, die diese bedienen können, wären diese Computer nutzlos.

Für den italienischen Theoretiker Paolo Virno wird dadurch sogar aufgrund der gegenwärtigen Entwicklung des Kapitalismus das sogenannte Wertgesetz außer Kraft gesetzt. Es besagt, dass der Wert einer Ware durch die in ihr vergegenständlichte Arbeitskraft bestimmt wird. Doch Virno zufolge wurde das in den neuen Waren vergegenständlichte Wissen für den Preisbildungsprozess immer wichtiger, und so das Marxsche Standardgesetz quasi abgeschafft.

Der englische Autor Paul Mason schöpft aus dem »Maschinenfragment« hingegen die Hoffnung auf ein neues Modell des Übergangs vom Kapitalismus zu einer neuen Gesellschaftsform, weil die Existenz des Kapitalismus »nicht mit dem gesellschaftlichen Wissen vereinbar« sei.

So sehr kann sich die Auffassung über die Bewegkräfte der Gesellschaft also verändern. Doch ob dies Romano Alquati und seine Mitstreiter im Kopf hatten, als sie an den Fabriktoren von Fiat und Olivetti anklopften?

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