Wie funktioniert Evolution?
Vor 40 Jahren erschien Richard Dawkins’ Buch »Das egoistische Gen«. Es ist eines der am meisten umstrittenen Werke der modernen Biologie. Von Martin Koch
In Tränen aufgelöst kam eine kanadische Schülerin zu ihrem Lehrer. Nachdem sie das Buch »Das egoistische Gen« von Richard Dawkins gelesen habe, erzählte sie, sei sie nur noch traurig und empfinde das Leben als trostlos. Ein Verleger, der das Buch in Neuseeland herausbrachte, konnte nach der Lektüre drei Nächte nicht schlafen, so sehr hätten ihn die darin vertretenen Thesen aufgewühlt. Andere fragten Dawkins, wie er es überhaupt noch fertigbringe, morgens mit gutem Gewissen aufzustehen.
Aber auch unter Wissenschaftlern schlug das Buch ein wie eine Bombe. Kurz nachdem es 1976 im Verlag Oxford University Press erschienen war, wandte sich der niederländische Zoologe Nikolaas Tinbergen an den österreichischen Verhaltensforscher Konrad Lorenz: »Du musst Richards Buch unbedingt lesen. Es ist außerordentlich gut geschrieben und als Ganzes brillant.« Zugleich versuchte Tinbergen, der wie Lorenz 1973 den Medizin-Nobelpreis erhalten hatte, seinen Kollegen vorab zu besänftigen: »Ich habe Dawkins gesagt, dass er dir gegenüber zu hart war und dass du viel mehr über Darwinismus weißt, als er denkt.«
Doch nicht damit brachte der 35-jährige Dawkins die alte Garde der Verhaltensbiologen gegen sich auf. Viel schwerer wog sein Vorwurf, Lorenz und seine Kollegen hätten gar nicht richtig verstanden, »wie Evolution funktioniert«. Denn sie gingen fälschlich davon aus, dass »das Wesentliche bei der Evolution der Vorteil für die Art (oder die Gruppe) und nicht der Vorteil für das Individuum (oder das Gen) sei«. Lorenz etwa vertrat die These, dass das Verhalten von Tieren einem »höheren« Gruppeninteresse und damit letztlich der Erhaltung der Art diene. Tatsächlich schien es lange so, als würden die Individuen mancher Populationen teilweise auf ihre eigene Fortpflanzung verzichten, um zu verhindern, dass die Population durch ein zu starkes Wachstum ihre eigene Existenz gefährde. Auffällig ist überdies, dass die Männchen vieler Arten gewöhnlich nur mit Drohgebärden und nicht mit tödlichem Ernst um Reviere oder Weibchen kämpfen. Auch das wurde als Beleg dafür angeführt, dass Tiere gleichsam im Interesse ihrer Art handeln. Obwohl ein Großteil der Evolutionsbiologen die Theorie der Gruppenselektion ablehnte, erlangte sie dennoch eine erstaunliche Popularität.
Dann jedoch machten Zoologen einige verstörende Beobachtungen. Sie stellten zum Beispiel fest, dass ein Löwenmännchen, das ein Rudel neu übernimmt, die von seinem Vorgänger gezeugten Jungtiere tötet. Weil ein solches Verhalten offenkundig die Gruppe schwächt, hielt man es anfangs für pathologisch. Erst als zahlreiche weitere Fälle von Infantizid im Tierreich dokumentiert wurden, vermuteten einige Forscher dahinter eine evolutionäre Strategie: Nach dem Tod ihrer Jungen kommen die Weibchen des Löwenrudels schneller in den Östrus, was wiederum dem neuen Anführer die Möglichkeit gibt, ohne längere Verzögerung eigenen Nachwuchs zu zeugen. Zugespitzt könnte man auch sagen: Der Löwe handelt instinktiv im Interesse seiner Gene, die gleichsam danach streben, sich möglichst rasch in der Population zu verbreiten.
»Gene sind in diesem Sinne egoistisch«, meint Dawkins. Denn sie können die Zahl ihrer Kopien nur dann vergrößern, wenn sie andere Genkopien aus der Population verdrängen. Um dieses Ziel zu erreichen, entwickeln Gene raffinierte Strategien, deren Beschreibung zu jenen Teilen von Dawkins’ Buch gehört, die viele Menschen empört haben. Denn danach ist der Körper eines Lebewesens nichts weiter als ein provisorischer Behälter, den die Gene sich erschaffen, um ihre eigene Verbreitung zu gewährleisten. Ist diese Aufgabe erfüllt, wird der Körper für die Evolution nutzlos und mehr oder weniger rasch entsorgt. Dawkins dazu: »Wir sind Überlebensmaschinen - Roboter, blind programmiert zur Erhaltung der selbstsüchtigen Moleküle, die Gene genannt werden.« Prägnanter noch hatte es zuvor schon der britische Schriftsteller Samuel Butler in einem Aphorismus formuliert: »Eine Henne ist nur die besondere Art und Weise, durch die ein Ei ein neues Ei hervorbringt.«
In seiner unlängst erschienenen Autobiographie weist Dawkins darauf hin, dass ihm das Wort vom Egoismus der Gene nur als Metapher gedient habe. Denn Gene verfügen weder über einen Willen, noch verfolgen sie irgendwelche Absichten. Gezielt handeln können nur lebendige Organismen. Diese allerdings verhalten sich tatsächlich oft so, als würden sie die beste Strategie zur Vervielfältigung ihrer Gene wählen sowie Kosten und Nutzen ihres Tuns gegeneinander abwägen. In Wirklichkeit jedoch ist es der evolutionäre Erfolg bestimmter individueller Verhaltensweisen, der rückblickend betrachtet den Anschein einer planmäßigen Handlung erweckt.
Aus Dawkins’ Modell folgt jedoch eine weitere und gern unterschlagene Konsequenz: Der sogenannte Egoismus der Gene äußert sich oftmals in der Kooperation der Individuen. Vor allem wenn zwischen diesen eine genetische Verwandtschaft besteht. Eltern, die sich im Tierreich aufopferungsvoll um ihren Nachwuchs kümmern, beschützen damit zugleich ihre eigenen Erbanlagen und tragen zu deren Überleben bei. Vorausgesetzt natürlich, dass der Nachwuchs sich ebenfalls fortpflanzt. Der britische Biologe und Marxist J. B. S. Haldane erklärte dazu einmal scherzhaft: »Würde ich mein Leben opfern, um meinen Bruder zu retten? Nein. Aber für zwei Brüder oder acht Cousins würde ich es tun.« Bekanntlich haben Geschwister im Schnitt 50 Prozent ihrer Gene gemeinsam, bei Cousins und Cousinen sind es 12,5 Prozent. Bliebe noch zu erwähnen, dass auch die Kooperation von nicht verwandten Individuen häufig dazu führt, dass beide Seiten davon profitieren, und zwar auch aus »Sicht« ihrer Gene.
Im Anschluss an die Veröffentlichung von Dawkins’ Buch wurde eine Frage besonders heftig diskutiert: Was wird im Prozess der natürlichen Auslese eigentlich selektiert? Sind es Individuen oder lediglich deren Gene? Nach Charles Darwin, der bekanntlich von Genen noch nichts wusste, zielt die Selektion auf den individuellen Organismus bzw. den sogenannten Phänotyp, der unter günstigen Umweltbedingungen nur als Ganzes überleben und sich fortpflanzen kann. Dawkins widersprach hier insofern, als er den Prozess der natürlichen Auslese ins Mikroskopische verlagerte, nämlich auf die Ebene der Gene. Diese wetteifern danach selbst um den evolutionären Erfolg, was vielen am besten in der Hülle eines vergänglichen Körpers gelingt. »Früher galten Gene als Werkzeuge, die von Lebewesen benutzt werden, nach heutiger Sicht ist es genau andersherum«, heißt es bei Dawkins, dessen Modell einer genzentrierten Selektion allerdings von Anfang an auf den erbitterten Widerstand anderer namhafter Evolutionsbiologen stieß.
Die Selektion könne Gene gar nicht »sehen« und folglich auch keine Auswahl zwischen ihnen treffen, kritisierte der US-Evolutionsforscher Stephen Jay Gould. Sein Kollege Ernst Mayr nannte Dawkins’ Modell reduktionistisch, weil darin ein Lebewesen wie ein Sack voller unabhängiger Gene behandelt werde. Das sei jedoch nicht statthaft, denn eine Eins-zu-eins-Umsetzung von Genotyp zu Phänotyp finde nicht statt. Im Gegenteil: »Viele Gene besitzen unterschiedliche Selektionswerte, je nachdem, in welchen Genotyp sie eingefügt sind.« Überdies gibt es zahlreiche Merkmale von Organismen, an deren Ausprägung mehrere Gene beteiligt sind, zum Beispiel Körpergröße, Gewicht, Haarfarbe, Blutgerinnung etc. Aber auch der umgekehrte Fall tritt auf, nämlich dass ein Gen die Ausbildung verschiedener Merkmale steuert.
Organismen sind mithin keine Behälter für atomisierte Erbanlagen. Sie verfügen vielmehr über ein dynamisch strukturiertes Netzwerk von Genen. Und sie haben eine Geschichte, in der zufällige Einflüsse der Umwelt die Entwicklung des Phänotypus nachhaltig beeinflussen. »Was sich der Selektion letztlich darbietet«, so Mayr, »ist der Phänotyp, der den darunter liegenden Genotyp verdeckt.«
Oft wird Dawkins unterstellt, dass er von sich und seinen Theorien derart eingenommen sei, dass er keine Kritik daran akzeptiere. Dem ist jedoch mitnichten so. In Reaktion auf die Einwände gegen sein Buch stellte er bereits 1982 klar: »Genetische Replikatoren werden nicht direkt selektiert, sondern stellvertretend durch ihre phänotypischen Erscheinungen.« In seiner Autobiographie entwickelt Dawkins diesen Gedanken weiter. Danach können sowohl Gene als auch Organismen als Einheiten der Selektion betrachtet werden - unter der Bedingung, dass man die Ebenen nicht vermischt: Das, woran die Selektion ansetzt, ist der Einzelorganismus, während Gene das sind, was letztlich ausgelesen wird.
Die Botschaft von Dawkins’ Buch klingt in der Tat wenig sentimental. Mögen Menschen auch noch so stolz sein auf ihren wohlgeformten oder durchtrainierten Körper, nach dem Tod gehen dessen Bestandteile unwiderruflich in den kosmischen Kreislauf der Elemente ein. Was von einem Individuum bleibt, sind allein seine bei der Fortpflanzung übertragenen Gene sowie gegebenenfalls seine geistigen Schöpfungen (Theorien, Kunstwerke, Technologien, Kleidermoden etc.). Solche von Dawkins kurz als »Meme« bezeichneten kulturellen Replikatoren verbreiten sich in der Gesellschaft ähnlich wie Gene in der Natur, allerdings tun sie das in der Regel mit Wissen und Nachhilfe ihrer Träger.
Richard Dawkins: Die Poesie der Naturwissenschaften. Autobiographie. Ullstein Hardcover, 730 S., 38 €.
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