Drei Monate DiEM25: »Wir müssen das Tempo erhöhen«
Demokratiebewegung zählt inzwischen mehr als 17.000 Unterstützer - bleibt aber realistisch: »Wir müssen viel mehr tun« / Treffen in Wien drehte sich unter anderem um Flucht, Migration und Solidarität
Yanis Varoufakis hat am Pfingstwochenende gleich zwei Mal Schlagzeilen gemacht - in der Bundesrepublik erregte es einige Medien, dass der frühere griechische Finanzminister seinen deutschen Amtskollegen Wolfgang Schäuble in einem Interview als inkompetent bezeichnet hat. Das mag mancher in Großbritannien auch so sehen, weshalb dort anderes für Aufmerksamkeit sorgte: Der Ökonom und Linkspolitiker will dort mit dem Labour-Abgeordneten John McDonnell und der einzigen Grünen im Unterhaus, Caroline Lucas, vor dem Referendum im Juni gegen einen Brexit mobilisieren und zugleich für ein anderes Europa werben.
Bei aller Kritik an den EU-Institutionen, an der vor allem von Berlin ausgehenden Richtung der Krisenpolitik hält Varoufakis wenig von den auch in Teilen der Linken verfolgten Exit-Linie. Ähnlich wie Jeremy Corbyn geht es dem Griechen um eine Reform der Union, um die Verschiebung von Kräfteverhältnissen. Wer bloß den Euro aufgibt und glaubt, sich in den nationalen Vorgarten zurückziehen zu können, werde in progressiver Richtung überhaupt keinen Schritt vorankommen.
Eine europäische Neugründung könnte man also das Ziel nennen - und dem will Varoufakis mit DiEM25 auf die Sprünge helfen. Gegründet im Februar auf großer Bühne ist die Demokratiebewegung nach gut drei Monaten Arbeit längst in jenen Ebenen angekommen, in der politisch betrachtet die Mühen erst so richtig beginnen.
Vor einigen Tagen hatte DiEM den ersten größeren Auftritt in Wien, es ging - natürlich - um die Antiasylpolitik der österreichischen Regierung, den Rechtsruck und die Frage der Migration. In der »Jungle World« war man nicht so angetan, von uninspiriertem bewegungslinkem Eifer war da zu lesen. »Die Politprominenz wie Katja Kipping und Saskia Sassen und weitere Diskutierende aus europäischen NGOs einigten sich zwar darauf, ›gegen Kapitalismus‹ zu sein, ließen es aber ansonsten mit Krisenanalyse oder politischer Ökonomie lieber bleiben und begnügten sich mit Gemeinplätzen.«
Das hört man nicht zum ersten Mal, von links wird bisweilen Beliebigkeit und mangelnde Klarheit bei DiEM25 beklagt. Anderswo klangen die Berichte über den Abend im Wiener Werk X zustimmender - etwa, was einen von Varoufakis dort vorgetragenen kurzen Text des US-Linken Noam Chomsky zur Flüchtlingsfrage angeht. Der Linguist und libertäre Sozialist kritisierte dort die »Reichen und Mächtigen dieser Welt, die sich jetzt über ein im Vergleich dazu tröpfelndes Rinnsal an Flüchtigen beklagen, das mit Leichtigkeit aufzunehmen wäre«. Varoufakis nannte als einen der Gründe für den beschämenden Umgang mit Geflüchteten die »Desintegration der Europäischen Union« und warnte vor einer Wiederkehr der »europäischen Seuchen des Zwanzigsten Jahrhunderts: Misanthropie, Xenophobie und Nationalismus«.
Nun ist das alles nicht neu, auch wenn man es nicht oft genug wiederholen kann. In Wien ging es DiEM25 aber um mehr: Die Versammlung sollte zugleich Grundlage für ein »White Paper«, also eine Art Weißbuch, sein, das die programmatische Debatte der Demokratiebewegung auf den Themenfeldern Flucht, Migration und Solidarität vorantreiben soll. Es handelt sich um einen der zentralen Pfeiler, die auch im Gründungsmanifest bereits beschrieben sind, nämlich auf ein »offenes Europa« zu drängen, »das aufgeschlossen für Ideen, Menschen und Inspiration aus aller Welt ist. Zäune und Grenzen gelten als Zeichen politischer Schwäche, die im Namen der Sicherheit Unsicherheit verbreitet«.
Auch wenn die Wiener DiEM25-Runde keineswegs die einzige Veranstaltung der vergangenen Wochen war, sieht man doch auch bei den Organisatoren der paneuropäischen Bewegung, dass das bisher Erreichte nicht reicht. »Um ganz offen zu sein«, hieß es dieser Tage gegenüber den DiEM25-Unterstützern, »müssen wir mehr tun. Viel mehr. (…) Hierzu werden wir euch sehr bald verschiedene Vorschläge vorstellen.«
Es geht sowohl um Aktionen als auch um den weiteren Aufbau des Netzwerkes. Mehr als 17.000 Mitglieder in 56 Ländern zählt DiEM25 inzwischen. Zwar gibt es vielerorts in Europa und auch darüber hinaus auch so genannte DSCs - DiEM25 Spontaneous Collectives, also weitgehend selbstverwaltete Gruppen von Unterstützern. Mitte April waren es um die 50, wer am 1. Mai in Kreuzberg unterwegs war, konnte auch einen Berliner Ableger finden. Die Lokalgruppe hatte keinen Stand auf dem myFest mehr bewilligt bekommen, es gab dann aber Hilfe und ein Plätzchen bei der Linkspartei. Und vor allem: Man erlebt eine gewisse realistische Entspanntheit, was die Erfolgsaussichten der Bewegung angeht.
Selbstverständlich will DiEM25 aber mehr als nur einer von vielen dann doch gescheiterten Aufbrüchen sein. »Unser Ziel, Europa zu demokratisieren, ist realistisch«, heißt es im Gründungsaufruf. Es sei sogar »weniger utopisch als der Versuch, die bestehende, antidemokratische, zerfallende Europäische Union am Leben zu halten«. Man habe »in nur drei Monaten die Segel gesetzt, um zur Odyssee der Demokratisierung Europas aufzubrechen, bevor es zerfällt«. Die Reise habe freilich gerade erst begonnen.
Wohin genau, das wird nicht zuletzt die Debatte um die verschiedenen Strategiepapiere zeigen - wie jenes Weißbuch zu Flucht, Migration und Solidarität. Bisher schälen sich sechs Stränge heraus, es geht um neue, demokratische EU-Institutionen, um die Lohnarbeit und Einkommensverteilung, um einen europäischen Green New Deal, um Technologiepolitik. Und natürlich um jenes Feld, auf dem DiEM25 auch mit Aktionen jenseits der Podiumsveranstaltungen und Konferenzen begonnen hat: Transparenz.
Inzwischen haben mehr als 61.000 Menschen einen entsprechenden Aufruf unterzeichnet. Mit der Aktion soll erreicht werden, dass die Treffen des Europäischen Rates, der Euro-Finanzminister und von Institutionen wie dem Rettungsmechanismus ESM »für alle Europäer zugänglich werden«. Zudem will DiEM25 »die Intransparenz der Entscheidungsprozesse« aufdecken, welche »die Macht haben, die Demokratie auf lange, lange Sicht zu verdrängen«, heißt es unter anderem mit Blick auf das umstrittene Freihandelsabkommen TTIP. »Wir sollten erfahren wann sie Entscheidungen treffen, wie unsere Vertreter abstimmen und mit welchen Lobbygruppen sie sich treffen«, so die Petition. »Wenn wir alle gemeinsam diese Transparenz einfordern, können uns die EU-Institutionen nicht ignorieren.«
Auf der einen Seite verweist die neue Bewegung mit einigem Recht darauf, dass man nach erst drei Monaten schon weiter sei als manch andere mit großem Aplomb gestartete Initiative. Auf der anderen Seite lassen sich auch die Schwierigkeiten nicht übersehen – zumal es einen selbst gesteckten Zeithorizont gibt: Die Demokratisierung Europas solle binnen zehn Jahren erreicht werden. »Wir müssen«, hieß es dieser Tage in einem Rundbrief an die DiEM25-Unterstützer, »unser Tempo erhöhen.«
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