Frauen in Einkaufstaschen

Aischylos und Deutschland-Protokolle: »Die Schutzflehenden« in Mannheim

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Das Theater kippt sie uns vor die Füße. Menschen. Verschlammte Frauen. Erdverschmiert. Die große, lange Schräge bringt sie auf Tempo. Sie fallen, rutschen, rollen. Dreckkugeln. Achtzehn Schutzflehende, aus einem Finsterloch ganz hinten ausgespuckt. Sechzehn Mitglieder der städtischen Bürgerbühne, zwei Schauspielerinnen (Ragna Pitoll, Sandra Bezler). Nun stehen sie vorn an der Rampe, vor böser Verheiratung hierher nach Argos geflohen, bitten um Asyl. Recken bizarr die Arme, spreizen die Finger - das sind die stoffumwickelten Zweige, die man, gleichsam als Asylantrag, den Polis-Politikern um die Knie streicht. Das Bleiberecht: ein göttliches Recht. Also ein Ewigkeitsrecht. In seinem Stück »Die Schutzflehenden« lässt Aischylos König Pelasgos aber plötzlich zögern: Eine Aufnahme der Flüchtlinge würde Krieg mit den reichen, mächtigen Ägyptern bedeuten, die diesen Frauen nachstellen, sie ins Exil zwangen. Volksentscheid! Die Bürger zeigen Mut: Es bleibt beim Asylrecht!

Volker Lösch inszeniert Aischylos am Nationaltheater Mannheim (Bühne und Kostüme: Carola Reuther). Das Programmheft nennt als Autoren auch Aktivisten, Anwälte, Dolmetscher, Entscheider, Helfer, Polizisten, Psychologen; Männer und Frauen. Griechische Antike verschränkt mit Texten aus dem jetzigen Deutschland. Schlimmen Texten. Schandbaren Texten. Wütenden Texten. Du möchtest fortwährend den Kopf schütteln. Im Zuschauerraum seufzt es vernehmlich. Vor allem über die Berichte vom Heidelberger »Modellverfahren mit Fall-Clustern zur Beschleunigung der Abläufe des Asylverfahrens«. Abservierungsprosa aus dem Bürokratenalltag. Oder zornige Passagen dagegen. Und Schuldprotokolle: Was wir billig kaufen, macht uns zu Lobbyisten von Kolonisatoren.

Lösch, der Deutlichkeitsemphatiker, der Bilderwuchtende, der Meißelmatador. Der Agitatorhüter, der keine Wattebällchen in sein Theater hereinlässt. Wieder gelingen ihm grandios greifende Choreografien. Wie sie geduckt stehen, diese Frauen. Wie auf dem Sprung. Oder vor Angst, geschlagen zu werden. Sind sie schon: Geschlagene. Wie diese Frauen ihren Kreis formen, ihn sprengen, wie sie sich finden, einander verlieren. Wie Matthias Thömmes als Politiker Pelasgos zwischen ihnen, gegen sie, vor ihnen, hinter ihnen rotiert, stolpert, stampft, posiert und schreckhaft zuckt. Im Goldanzug, der mehr und mehr den Schmutz der Schutzflehenden annimmt. Jede Hand heute macht sich schmutzig. Ja, das ist sie, die befleckte Empfängnis der Moderne: Der Dreck der Verhältnisse gebiert den neuen Weltbürger, den Fliehenden. Der nach Brecht die Länder schneller wechselt als die Hemden. Nein, es ist immer das letzte Hemd. Und nur die Arten der Grenzzäune wechseln.

Und wie die Frauen jetzt Integration beginnen! In Eimern Wasser waschen sie sich sauber. Aber Wasser aus den gleichen Eimern wird es sein, das ihnen unter die Füße geschüttet wird - erneutes Ausgleiten, Hinrutschen, Weggespültwerden. Dann nämlich, wenn die kalte Rede geht von den deutschen Bürokrati(e)raden. Da weht die bittere Ahnung, noch immer niste im europäischen Gemüt die jahrhundertelange Gewöhnung an imperiale Optionen für das blanke Unrecht. Es ist das Gemüt, das einst die Schotten dicht machte, um zu Eroberungen hinauszuziehen, und es ist heute das Gemüt, das die Schotten dicht macht.

Fabian Rabe ist der Herold aus Ägypten, die Rampensau der Verachtung, der Abschreckung, der Einschüchterung. Den Gummiknüppel zwischen den Beinen, hochgereckt. In den Wasserschlammpfützen hüpfend wie ein Springteufelchen der Selektion. Derber, gröber, ekelhafter geht›s nicht - und dennoch lässt Lösch auch hier nicht das Gefühl aufkommen, Wahrheit werde beschädigt. Eine der stärksten Bildmetaphern: Rabe verschnürt jede der achtzehn Frauen in einer großen Tragetasche. Abschiebungsmaterial. Wie eine Einladung zum Ersticken wirkt das. Ein quälend langer Vorgang. Begleitet von chorischer Leidlitanei. Erschütternde Einzelschicksale aus Bosnien, Afghanistan. Wie da die deutsche Ordnung robust und roh und rigoros durch Herzinfarkte, Neurosen, Kinderängste, durch jedes nur denkbare Unglück, jede Ohnmacht von Flüchtlingen stampft. Unvorstellbar zynisch, dass eine jahrelange Abhängigkeit von Suppenküchen gepriesen wird als Zugangsimpuls für den Wohlfahrtsgedanken des Christentums.

Die Fremden als Bedrängte, die uns bedrängen. Weil sie nicht leben dürfen, sondern nur immer überleben müssen. Wir sind erfasst von Einbrüchen des Weltwirbels in unsere Schonung. Die Krise ernst nehmen heißt, die Gemeinsamkeit aller Parteiungen zu gestehen: keine Lösungsversuche ohne Hilflosigkeit. »Kein Ausweg ohne Leid«, schreit es von der Bühne. Zwischen Öffnung und Kontrolle gilt es also, die eigene Begrenztheit mitdenken - um zur Wahrheit zu gelangen, die auch anderen gehört. Rabes Herold hockt auf einer der Plastetaschen mit den wie Müll verpackten Frauen und kotzt seine Reinkultur heraus, seine deutschen Reinhaltungsgebote. Wieder gibt Lösch Kante. Es hätte die treffende Gewalttätigkeit des Abends gewiss verstärkt, wenn er just an dieser Stelle einschmeichelnd, bewusst verunsichernd geworden wäre, verführerisch für das, wovon wahrscheinlich keiner ganz frei ist: vom Glatteisgefühl auf den Wegen zwischen Abwehr von Fremdenfeindlichkeit und dem Verständnis für Ängste. Aus den Bütten der Politik schwappt weiter der Ballast der Sachzwangneurotik und Beschwichtigungsphrasen. Krieg den Bütten und keinen Frieden den Ballästen!

Ein brutal betörender Theaterabend. Die Aufführung akzentuiert in einem genau gefühlten Rhythmus, sie setzt sich kraftsouverän einer Monotonie des Absehbaren aus, eine Monotonie, die intensiv, ganz licht- und schattensicher einzig auf die Wucht, die Wildheit, das Wehe, das Wallende und Wühlende der Situation setzt. Kein Stück. Kein Drama. Aber dramatisch. Theater als öffentlicher Ort für Verlierer. Es gibt keinen Landtag, der Flüchtlingen eine Bühne böte. Es gibt für sie keinen Raum im Bundestag: Sprecht, sprecht zu uns, bis wir die Fassung verlieren, die uns leider schützt vor radikaler Zuwendung! Das wäre Mut zur Aufmischung der eigenen öden Gefangenheit in gut bezahlten Gewohnheiten. Die Hilflosigkeit der Regierenden hätte Würde und Adel, wenn sie denn wenigstens den wassertriefenden Überlebenden ins Gesicht gestottert würde. Von Angesicht zu Angesicht.

Der Schluss ist aufreizend multikulturell. Die Frauen in schönen Kleidern. Ein heiter martialischer, martialisch heiterer Gemeinschaftsruf nach welttotaler Grenzenlosigkeit. »Ab sofort sind unsere Grenzen offen!« Europa blockt Flüchtlinge ab? Deutschland nicht. »Dann nehmen wir sie alleine auf, das geht«. Grell, hell diese Traum-Ode an die neue Freude. »Wir brauchen ein Weltbürgerrecht für alle«. Oh Gott! Das ist der Höhepunkt einer raffinierten Gefühlspeitschung. Beglückung übers Gedankenspiel eines kommenden Internationalismus - Lösch weiß aufzupulvern. Als sei er Chortrainer sämtlicher Fußball-Fankurven. So, dass man selbst masochistischste Vorschläge dieser auch selbsthassgetränkten Willkommenskultur geradezu mit»schunkelt«: »... und bringt eure Bomben mit, wir sind am Extremismus nicht unschuldig«. Theaters Schrei: Noch was zu weit geht, geht nicht weit genug.

»Es ist vorbei!« wird skandiert. Er wird geschnauzt, gejubelt, dieser Satz. Vorbei die Selbstgefälligkeit, die unangetastete Sattheit. Die Flüchtlinge zerbrechen die Verhältnisse, die wir im Westen brüchig machten. Sie zerbrechen das Glas, das unser Haus ist. Auch Deutschland erlebt die noch folgenreichere Wiedervereinigung. Nicht die der Brüder und Schwestern, sondern die der Satten mit denen, die es satt haben. Herrsche und teile die Welt nach deiner Interessenslage ein? Wann endlich haben wir uns selber satt und hungern der neuen Machtregel entgegen: Beherrsche dich und teile mit allen. Unsere Scham davor ist unsere Schande.

Nächste Vorstellungen: 26. Mai, 8., 14. und 22. Juni

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