Der Zynismus der Generäle
Hundert Jahre nach der »totalen« Schlacht des Ersten Weltkrieges treffen sich Hollande und Merkel in Verdun
»Wer nicht in Verdun war, war nicht im Krieg«, lautete ein geflügeltes Wort der französischen Teilnehmer des Ersten Weltkrieges, der hier auch heute noch »Der Große Krieg« genannt wird. Tatsächlich waren seinerzeit drei von vier französischen Soldaten mehr oder weniger lange in der »Hölle von Verdun«. Die schlimmen Eindrücke, die sie von dort mitnahmen, prägten Generationen.
Dabei war die Schlacht von Verdun, die am 21. Februar 1916 mit einem massiven deutschen Angriff begann und Mitte Dezember ohne nennenswerte Geländegewinne oder gar den Sieg einer der beiden Seiten endete (weil man sich der inzwischen strategisch wichtigeren Schlacht an der Somme zuwandte), weder kriegsentscheidend, noch war sie die opferreichste des Ersten Weltkrieges. In den zehn Monaten, die sie andauerte, wurden 300 000 Soldaten getötet und 400 000 verwundet. Insgesamt forderte der Krieg das Leben von mehr als neun Millionen Soldaten und von fast acht Millionen Zivilisten, und er hinterließ 21 Millionen Verletzte.
Verdun aber wurde zum Symbol für einen »totalen« Krieg, der mit modernster Kriegstechnik regelrecht industriemäßig betrieben wurde. Wo zynisch Tausende Menschen für den meist nur vorübergehenden Gewinn weniger Meter Gelände geopfert wurden. Wo die Soldaten monatelang im Schlamm lagen und sich unter dem Granathagel kaum zu rühren wagten. Wo sich die feindlichen Linien so dicht gegenüber lagen, dass es bei Attacken immer wieder ein opferreiches Ringen Mann gegen Mann gab. Und wo viele durch Bajonettstiche verletzt wurden und zwischen den Linien erbärmlich verreckten. Hier spielte sich alles auf einem nur zehn Mal mal zwanzig Kilometer großen Hochplateau ab, das von weither einsehbar war und keinen natürlichen Schutz bot, weil es kaum Hügel oder Wald gab.
Durch unzählige Granaten, von denen die Deutschen allein am ersten Tag der Schlacht eine Million abfeuerten, wurde dieses Gelände um und um gepflügt. Die Spuren der ehemaligen Gräben zeichnen sich noch heute als Wellen im Brachland ab, das vordem Acker war und wegen der unzähligen Granatsplitter auf immer für die Landwirtschaft verloren ist. Neun Dörfer wurden hier restlos zerstört, wobei das besonders erbittert umkämpfte Fleury - später als einziges Dorf nicht wiederaufgebaut - während der Schlacht mehr als 15 Mal den Besitzer wechselte.
Hier nun steht seit 1967 ein Memorial, dessen ständige Ausstellung an die Schlacht erinnert. Das ursprüngliche Konzept stammte von ehemaligen Teilnehmern der Schlacht. Nachdem 2008 mit Lazare Ponticelli der letzte im Alter von 110 Jahren gestorben war, wurde es Zeit, das Memorial von Grund auf neu zu gestalten. Um den Krieg für jüngere Generationen begreiflich und erfahrbar zu machen.
Der mehrjährige Umbau ist abgeschlossen. Am Sonntag wird das neue Memorial durch Präsident François Hollande und Bundeskanzlerin Angela Merkel offiziell der Öffentlichkeit übergeben. Es ist wohl damit zu rechnen, dass die beiden Spitzenpolitiker den Händedruck von Präsident François Mitterrand und Bundeskanzler Helmut Kohl vom September 1984 an den Gräbern der Toten von Verdun wiederholen, von dem man bis heute nicht weiß, ob er spontan oder für die Medien inszeniert war, der aber zu einem Symbol für die deutsch-französische Aussöhnung, Verständigung und Freundschaft geworden ist.
In diesem Zusammenhang fällt dem Besucher, der das Memorial noch von früher kennt, der veränderte Ansatz der Präsentation auf. Während einen hier einst auf Schritt und Tritt der unterschwellige Vorwurf verfolgte, dass einzig »die Deutschen« an diesem grausamen und sinnlosen Krieg schuld waren, so wird heute die Verantwortung historisch gerechter auf alle beteiligten Länder samt ihren verantwortlichen Politikern und Generälen verteilt. Alle Regierungen, so wird deutlich, hatten damals ihre Gründe und Interessen, versprachen sich von diesem Krieg Vorteile oder Zugewinne. Jetzt werden zudem stärker das Grauen und Leiden der Soldaten, das auf beiden Seiten der Frontlinie gleich war, das sinnlose Gemetzel unter Einsatz modernster Technik, der Zynismus der Offiziere und Generäle, die ihre Männer verheizt haben, in den Mittelpunkt gestellt.
Der zweite prägende Eindruck in dem neugestalteten Memorial ist die moderne Szenographie, die hilfreiche audiovisuelle Technik und der geschickte Einsatz von Spotlight in den naheliegenderweise dunkel gehaltenen Räumen. Sie rücken die rund 2000 Ausstellungsstücke - aus einem 20 000 Stücke umfassenden Fundus - ins rechte Licht. Tafeln mit den sparsamen Texten in französischer, deutscher und englischer Sprache bieten die entsprechenden Informationen. Eindrucksvoll ist die Eskalation dieses ersten Krieges mit immer massiverem Einsatz von Material und Technik in Szene gesetzt: 1914 liegt der Fokus auf Pferden und Bajonetten, 1915 auf Handgranaten und Sprengstoff, 1916 auf Geschützen, Gas und Maschinengewehren, 1917/18 auf Panzern und Flugzeugen. Unter der Decke hängen ein französisches und ein deutsches Flugzeug. Auch einige Kanonen sind aufgebaut. In einem Raum ist der legendäre »Voie sacré« (Heiliger Weg) nachgestaltet, jene 70 Kilometer lange und für die Versorgung der Front auf eine Breite von sieben Meter ausgebaute Straße von Bar-le-Duc nach Verdun, die eine Schlüsselrolle für die Logistik der französischen Truppen spielte. Zwei Lkw deuten die endlose Kolonne der einst täglich über jene Straße rollenden 3500 vollgeladenen Lastwagen, 2000 Personenautos und 800 Sanitätsfahrzeuge an.
Die geschichtliche Einordnung der Schlacht macht ihren symbolträchtigen Charakter verständlich: Anno domini 843 wurde mit dem Vertrag von Verdun das europaweite Königreich von Karl dem Großen aufgeteilt, daraus entstanden später Frankreich und sehr viel später schließlich Deutschland. Deshalb war es für die Franzosen 1916 so wichtig, Verdun und das östliche Ufer der Maas zu halten. Dabei war die Festung, auf die sich die deutschen Angriffe konzentrierten, militärstrategisch unbedeutend. So ließ das französische Oberkommando dort sogar Geschütze demontieren, um sie an der Front weiter im Nordosten einzusetzen.
Der deutsche Oberbefehlshaber General von Falkenhayn wiederum wollte diese Schlacht Anfang 1916, um Bewegung in den festgefahrenen Stellungskrieg zu bringen, der die Moral seiner Truppe zersetzte. In Verdun sollte Frankreich entscheidend geschlagen werden, um dann den Kampf mit den Engländern aufnehmen zu können, die in Falkenhayns Augen Deutschlands Hauptgegner waren. Seine Rechnung ging nicht auf. Den eklatanten Misserfolg versuchte er später umzuschreiben und glauben zu machen, es sei ihm gar nicht um Geländegewinne gegangen, sondern um das »Ausbluten« der Franzosen.
Was die französische Seite betrifft, so wird in der Ausstellung erklärt, wie Marschall Philippe Pétain, der Ende Februar 1916 an die Spitze der vom Ausbruch der Schlacht überraschten französischen Truppen befohlen wurde, eine Stabilisierung des Frontabschnitts gelang und wie er damit die Vorbereitung für eine Wende zugunsten Frankreichs herbeiführte. Er ging in der Folge - zweifellos übertrieben - als »Held von Verdun« in die Schulbücher ein. Dies und sein Ruf, im Gegensatz zu anderen hohen Offizieren und Generälen Interesse und Mitgefühl für die Soldaten in den Gräben gezeigt zu haben, machen verständlich, warum mehr als zwei Jahrzehnte später der von ihm betriebenen Kollaboration mit den faschistisch-deutschen Besatzern so viele Franzosen gutgläubig folgten.
Breiten Raum nehmen in der Ausstellung die Opfer und Leiden der französischen wie deutschen Soldaten ein, ihr Alltag im Graben und hinter den Linien, ihre Ausrüstungen und persönlichen Dinge. In ihren Briefe an die Angehörigen zu Hause gaben sie eine zumeist abgeschwächte Schilderungen des Krieges wieder und artikulierten die Hoffnung, bald heil wieder heraus- und heimzukommen.
Ergänzen sollte man den Besuch des Memorials mit der Besichtigung des nur wenige hundert Meter entfernten Fort Douaumont. Das fiel wenige Tage nach Beginn der Schlacht praktisch kampflos in die Hände eines kleinen Trupps brandenburgischer Infanteristen. Sie sind überraschenderweise auf fast keinen Widerstand gestoßen, denn das französische Oberkommando, das mit keinem Angriff rechnete, hatte dort nur einige Kriegsversehrte zurückgelassen. In den folgenden Monaten wurde das Fort heiß umkämpft; erst im Oktober konnten es die Franzosen zurückerobern.
Zum Abschluss führt ein Besuch des Schlachtfeldes von Verdun meist zu dem ebenfalls nur wenige hundert Meter entfernt gelegenen Beinhaus von Douaumont. In den zugemauerten Grüften des 137 Meter langen Baus ruhen seit 1932 die sterblichen Überreste von mehr als 130 000 nicht identifizierten französischen und deutschen Soldaten. Ein 46 Meter hoher Turm in Form einer Granate überragt das Gräberfeld mit 16 000 weißen Kreuzen.
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