Wenn Nachhilfe zu teuer ist
Das Bildungspaket verspricht Chancengleichheit - liefert sie aber nicht
Es ist ein gewöhnlicher Vorgang an deutschen Schulen: Ein Schüler verschlechtert sich, die Lehrkraft empfiehlt Nachhilfe. Mittlerweile gibt es zahlreiche privatwirtschaftliche Angebote - Schülernachhilfe ist ein stark wachsender Wirtschaftszweig. Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung vom Januar erhalten insgesamt 14 Prozent der deutschen Schüler zwischen 6 und 16 Jahren privat finanzierte oder kostenfreie Nachhilfe. Schüler aus finanzstarken Familien (ab 3000 Euro Haushalts-Nettoeinkommen) nutzen Nachhilfeangebote etwas häufiger als Schüler aus Haushalten mit geringeren Einkommen (15 zu 12 Prozent). Kinder und Jugendliche ohne Migrationshintergrund erhalten eher Nachhilfe als ihre Altersgenossen mit ausländischen Wurzeln (14 zu 11 Prozent). Insgesamt werden in Deutschland jährlich fast 900 Millionen Euro für Nachhilfe ausgegeben.
Privater Unterricht ist allerdings teuer, nicht jeder Schüler, der Nachhilfe braucht, kommt aus einem Haushalt, der sie bezahlen kann. Das Bildungs- und Teilhabepaket, das hilfebedürftigen Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen neben dem Regelbedarf Leistungen gewährt, soll sicherstellen, dass auch Schüler aus Haushalten, die auf Grundsicherung für Arbeitssuchende oder Sozialhilfe angewiesen sind, von Bildung nicht ausgeschlossen sind. Unter anderen bietet das Bildungspaket die Möglichkeit, die Kosten für eine »angemessene Lernförderung als Ergänzung der schulischen Angebote« zu übernehmen, wenn die Förderung dazu geeignet und erforderlich ist, das festgelegte Lernziel zu verwirklichen.
Mehrmals war die Finanzierung von Nachhilfe mit Geldern aus dem Bildungs- und Teilhabepaket schon Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzungen. 2012 erstritt sich ein Hauptschüler aus Hessen das Recht auf Englisch-Nachhilfe als Hartz-IV-Leistung. Sein Lehrer hatte ihm zu privater Nachhilfe geraten, um einen qualifizierten Hauptschulabschluss zu schaffen. Das Jobcenter verweigerte die Kostenübernahme, da keine Versetzung in die nächsthöhere Klassenstufe anstand und der Schüler bereits über einen Hauptschulabschluss verfügte. In einem Eilverfahren gaben die Richter vom Sozialgericht in Wiesbaden dem Schüler recht, der erfolgreiche Schulabschluss genügte als Lernziel.
Anders im Januar 2016: Da verweigerte das Landessozialgericht in Hessen einem Fünftklässler die Lernförderung, da seine Versetzung - das nach schulrechtlicher Bestimmung festgelegte wesentliche Lernziel - nicht gefährdet war. Der Schüler, der mit seinen Eltern und mit seinem Bruder Hartz-IV-Leistungen bezog, wollte sich in Englisch verbessern, seine Fachlehrerin attestierte Englisch-Leistungen im schwach befriedigenden Bereich und hatte zwei Stunden Nachhilfe pro Woche für notwendig gehalten. Der Landkreis lehnte dies ab, die Richter folgten der Einschätzung, dass die Versetzung nicht gefährdet sei.
Tom Erdmann, Vorsitzender des Berliner Landesverbandes der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), kann die Entscheidung des Gerichtes nicht nachvollziehen. Der pädagogische Nutzen sei in Frage gestellt, wenn »Empfehlungen von Lehrkräften übergangen werden«, so Erdmann gegenüber »nd«. Dass Nachhilfe über über das Bildungs- und Teilhabepaket finanziert werde, sei ein guter Ansatz. Allerdings kritisiert die Berliner GEW, dass die Mittel nicht auch Schulen zur Verfügung stehen, um selbst Nachhilfe anzubieten. Die außerschulischen Angebote werden von den betroffenen Familien oftmals nicht angenommen, teils aus Scham, teils aus Unwissen oder auch wegen des hohen Aufwands. Die bewilligten Gelder werden nicht einmal zur Hälfte verteilt, weil zu wenige Anträge gestellt werden. In Berlin wurden 2012 lediglich 37 Prozent der Mittel des Bildungspakets ausgeschüttet. Erdmann empfiehlt deshalb, dass Schulen die anfallenden Aufgaben übernehmen sollten, ausgestattet aus den Töpfen des Bildungspaketes.
Fünf Jahre nach der Einführung sehen auch der Paritätische Wohlfahrtsverband und der Deutsche Kinderschutzbund das Bildungs- und Teilhabepaket als gescheitert an. »Die Leistungen sind in ihrer Höhe unzureichend und so, wie sie jetzt gestaltet sind, ungeeignet, Bildung und Teilhabe für benachteiligte Kinder und Jugendliche zu ermöglichen«, so der Landesgeschäftsführer des Paritätischen, Reinhard Müller. Carsten Nöthling, der Landesgeschäftsführer des Kinderschutzbundes kritisiert den ungeheuren bürokratischen Aufwand: »Zu viele Kriterien und komplizierte Verwaltungsregeln benachteiligen diejenigen, die eigentlich davon profitieren sollten.«
Es ist vor allem auch die Zusammenarbeit mit den Jobcentern, die Philipp Büchner, Mitgründer der LernBar, einem privatwirtschaftlichen Anbieter von Einzelnachhilfe in Baden-Württemberg und der Schweiz, als Hindernis für einen schnellen Lernerfolg für betroffene Schüler sieht. Circa fünf Prozent der Nachhilfeschüler der LernBar bekommen den privaten Unterricht vom Jobcenter bezahlt. Das Problem sei, dass viele dieser Schüler meist aus akuten Gründen in sein Institut kämen, sagt Büchner: »Die Schüler brauchen dann sofort Nachhilfe, nicht erst in drei Monaten, wenn das Jobcenter sie bewilligt hat.« Oft dauere es vier bis acht Wochen, bis vom Jobcenter die Bewilligung komme - der Betreiber der LernBar ist deshalb dazu übergegangen, das Risiko zu wagen und auch Schüler aufzunehmen, bei denen die Bewilligung von Lernleistungen noch aussteht. »Bei 90 Prozent der Fälle kommt die Bewilligung auch zustande, aber für die Motivation der Schüler ist das natürlich sehr drückend, wenn sie eigentlich mit der Nachhilfe anfangen wollen und nicht wissen, ob die Kosten übernommen werden.«
Ein großes Problem sieht Büchner auch darin, dass Betroffene gar nicht wissen, wie sie Leistungen für Bildung und Teilhabe beantragen können. Aus seiner Erfahrung seien es oft engagierte Lehrkräfte oder Sozialarbeiter, die für die betroffenen Familien zuständig sind, die es an die Haushalte herantragen und sie dabei unterstützen, die notwendigen Anträge auszufüllen. In der LernBar sind es zu 100 Prozent Werkrealschüler, also ehemalige Hauptschüler, die die Lernleistungen vom Jobcenter finanziert bekommen. Noch nie seien Schüler von Realschulen oder Gymnasien mit Anträgen auf Bildungsteilhabe auf sie zugekommen, erzählt Büchner.
Auch das ist für den Berliner GEW-Chef Erdmann ein Grund, ein Umdenken in der Bildungspolitik zu fordern. »In Deutschland hängt der Bildungserfolg immer noch zu stark von der sozialen Herkunft ab.« Für Erdmann sind die Gemeinschaftsschulen, in der die Trennung zwischen Haupt- und Realschule sowie Gymnasium aufgehoben ist und alle Kinder gemeinsam bis zur zehnten Klasse lernen, die einzig sinnvolle Antwort. »Ihnen gelingt es am besten, den Bildungserfolg von sozialer Herkunft zu entkoppeln«, so Erdmann. Die Berliner GEW fordert daher die flächendeckende Einführung von Gemeinschaftsschulen.
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