Vom Internetjunkie zum Net-Piloten
Bonner Suchthelfer bilden Jugendliche zu Präventionshelfern gegen Netz- und Spielesucht aus
Bonn. Der Vater ist verzweifelt: »Mein Sohn erzählt mir nichts mehr aus der Schule und sitzt immer nur am Computer«, klagt er. »In der Schule ist er leider auch unkonzentriert«, bestätigt der Lehrer. Der Sohn ist genervt: »Lasst mich doch in Ruhe.« So etwa könnte ein Gespräch verlaufen, bei dem Erik, Michael und Reduan als »Net-Piloten« zum Einsatz kommen.
Noch sind die Schüler in der Ausbildung zu solchen »Piloten«. Bei dem Projekt von »update«, der Fachstelle für Prävention der Ambulanten Suchthilfe Bonn, lernen zwei Mädchen und neun Jungen im Alter zwischen 13 und 15 Jahren, ihre Mitschüler für die Gefahren des Internet-Konsums zu sensibilisieren.
Rezepte gegen die übermäßige Beschäftigung mit Computerspielen und Internet bei Jugendlichen sind gefragt. Auch die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler (CSU), will sich verstärkt um das Problem kümmern. Knapp zehn Prozent der deutschen Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren drohen laut einer Studie der Europäischen Union, in eine Abhängigkeit von Internet oder Computerspielen zu rutschen. Bei den 14- bis 24-Jährigen sind laut Bundesgesundheitsministerium sogar 16 Prozent gefährdet, 2,4 Prozent gelten bereits als süchtig. Die Ambulante Suchthilfe in Bonn testet derzeit ein Modell, das auf die Kompetenz von Jugendlichen setzt. Bei der Fachstelle »update« laufen seit eineinhalb Jahren die Fäden des von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung geförderten Projekts »Net-Piloten« zusammen.
Seit ihrer Gründung vor gut zehn Jahren war die Bonner Einrichtung schon häufig Vorreiter, wenn es um das Thema Sucht bei Jugendlichen ging. Möglich wurde das auch deshalb, weil Diakonie und Caritas vor gut zehn Jahren beschlossen, ihre Suchtberatungsstellen zusammenzulegen und die Kräfte zu bündeln.
Das Projekt »Net-Piloten« setzt auf Jugendliche wie Krystian. »Ich war selbst einmal ein bisschen süchtig«, gibt der Schüler zu. Laut einer Studie im Auftrag der Krankenkasse DAK-Gesundheit sind Jugendliche im Durchschnitt pro Werktag 2,6 Stunden im Internet. Bei Krystian waren es sogar sieben bis acht Stunden täglich, bis seine Mutter ihm den Computer eines Tages abnahm. »Damals war ich natürlich sauer. Aber ich habe eingesehen, dass es gut war«, sagt der 15-Jährige, der danach begann, Handball zu spielen.
Nun will er seine Erfahrungen als Net-Pilot weitergeben. Zusammen mit den anderen Jugendlichen sitzt der hochgewachsene blonde Junge in einem Klassenraum der Johannes-Rau-Schule in Bonn. Unter der Anleitung des Medienpädagogen Andreas Pauly erarbeiten sie in der fünftägigen Ausbildung kleine Unterrichtseinheiten in Quiz-Form zum Thema Internet- und PC-Konsum. Später werden sie damit in Vierer-Teams in die fünften bis siebten Klassen gehen, erklärt Pauly, Berater bei »update«. Pauly vermittelt den Net-Piloten, nicht als »Spaßbremsen« aufzutreten. Die zentrale Botschaft lautet: »Es ist okay, am Computer zu spielen oder soziale Kontakte über das Smartphone zu pflegen - solange es noch andere Freizeitbeschäftigungen gibt.«
Wenn sich bei dann bei einer Beratung, in die auch Eltern und Lehrer eingebunden werden können, Hilfebedarf für einen Jugendlichen herauskristallisiert, sollen die Net-Piloten ihn an »update« verweisen. »Ihr seid keine Therapeuten«, impft Medienpädagoge Pauly den Jugendlichen ein. Die Präventions-Fachstelle der Ambulanten Suchthilfe hingegen kann Betroffenen und Eltern mit verschiedenen Beratungsangeboten helfen - von der Sprechstunde über eine Gruppe für Jugendliche, die exzessiv am Computer spielen, bis zur anonymen Online-Beratung. epd/nd
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