- Gesund leben
- Fehlversorgung
Nur noch nicht richtig untersucht
Allgemeinmediziner Martin Scherer über den schwierigen Kampf gegen Überflüssiges in der Medizin
Was verstehen Sie unter Übertherapie?
Das ist nicht wirklich klar definiert. Es gibt im Deutschen die Begriffe »Überversorgung«, »Überdiagnose« oder »zu viel Medizin«. In der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin sprechen wir von »Überversorgung«. Das kann eine Überdiagnostik beinhalten, aber auch eine Übertherapie. Das Schwierige ist, dass es bei ein und derselben Erkrankung sowohl eine Über- als auch eine Unterversorgung geben kann.
Bei welcher zum Beispiel?
Bei Rückenschmerzen beispielsweise wird viel zu viel Bildgebung – also etwa Röntgenbilder – gemacht, aber zu wenig multimodale Therapie. Bei der koronaren Herzkrankheit werden zu viel Herzkatheter gelegt, aber es wird zu wenig auf eine gute Medikamenteneinstellung geachtet. Bei onkologischen Erkrankungen werden zu viele Chemotherapien gemacht, aber bei Patientenaufklärung, Begleitung und Palliativmedizin haben wir eine Unterversorgung. So gibt es oft ein Nebeneinanderher von Zuviel und Zuwenig. Deshalb sprechen wir auch häufig von einer »Über-, Unter- und Fehlversorgung«. Zu wenig ist eine Fehlversorgung, zu viel aber auch. Deutschland ist Weltmeister bei Operationen der Hüft- und Kniegelenke sowie der Wirbelsäule. Aber ob es wirklich zu viel ist, muss man immer im Einzelfall sehen.
Warum gibt es diese Fehlversorgung?
Weil wir in Deutschland ein sehr leistungsstarkes Versorgungssystem haben, das aber durch finanzielle Anreize gesteuert ist. Wir haben sehr viele Ärztinnen und Ärzte und es werden auch viele Leistungen erbracht. Aber es gibt keine wirkliche bedarfsgerechte Steuerung. Die Ressourcen werden also nicht dahin gelenkt, wo die größten Bedarfe sind – sagen wir mal, bei dem gleichzeitigen Auftreten mehrerer Krankheiten und bei sozialer Ungleichheit. Stattdessen wird einfach zum Beispiel sehr viel operiert, was dann auch sehr hoch vergütet wird.
Martin Scherer (52), Facharzt für Allgemeinmedizin, ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (Degam). Zugleich leitet er Institut und Poliklinik für Allgemeinmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Scherer forscht seit vielen Jahren zu Über- und Unterversorgung in der Medizin und ist auch Koordinator der ärztlichen Leitlinie zum Thema. ast
Wie ließe sich das ändern?
Wir müssen die Ressourcen sinnvoller einsetzen. Ein Beispiel: Seit 1990 haben sich die Arzt-Zahlen in Deutschland verdoppelt. Trotzdem findet nur jeder dritte Hausarzt, der in Rente geht, einen Nachfolger, sodass viele hausärztliche Patientinnen und Patienten keinen Hausarzt mehr finden. Viele Praxen sagen: Wir sind voll, wir schaffen das nicht mehr. Da haben wir wirklich ein Problem in der Grundversorgung, gerade auf dem Land. Das ist Unterversorgung in ihrer krassesten Form: Wenn jemand, der alt und krank ist, keinen Hausarzt mehr findet. Aber er wird jemanden finden, der ihm die Hüfte operiert.
Können einzelne Ärzte etwas beitragen? Manchmal bringt ein Gespräch mehr als ein überflüssiges Medikament.
Das passiert auch, aber sie kommen gegen diese Medizin-Maschinerie und OP-Industrie am Ende des Tages dann doch nicht an.
Es gibt unterschiedliche Schätzungen dazu, wie häufig es zu Übertherapien kommt. Von welcher Zahl gehen Sie aus?
Das ist wirklich schwer zu sagen. Als Hochschullehrer fungiere ich auch als Sachverständiger vor Gericht. Da habe ich manchmal riesige Aktenberge, die ich durcharbeiten muss, um herauszufinden: Wurde ein Fehler gemacht? Wurde zu viel oder zu wenig gemacht? Um im Einzelfall zu entscheiden, ob es sich um eine Übertherapie gehandelt hat, müssten sie den ganzen Fall aufarbeiten und bräuchten ein Komitee, das sich über diesen Fall beugt. Das ist durch Forschung nicht zu greifen. Das Einzige, was man sagen kann, ist zum Beispiel: Wenn in Deutschland mehr operiert wird und mehr Bildgebung gemacht wird als in jedem anderen Land der Welt, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass hier zu viel gemacht wird. Für den Einzelfall können wir eigentlich keine Aussage treffen.
Eine Übertherapie kostet nicht nur Geld, sondern kann Menschen schwer schaden. Haben Sie ein Beispiel parat?
Ja, zum Beispiel nicht-indizierte Untersuchungen. Es gab den Fall einer jungen Frau, die sich vom Augenarzt eine neue Brille verschreiben lassen wollte. Der Augenarzt hat noch weitere Tests gemacht, unter anderem das Gesichtsfeld untersucht. Dabei hat er ein Defizit festgestellt und deshalb eine MRT-Untersuchung veranlasst, bei der eine Veränderung des Sehnervs aufgefallen ist. Daraufhin wurde die Frau operiert. Bei dem Eingriff kam es zu einer Blutung, die zu einer Halbseiten-Lähmung führte. Von diesen Beispielen gibt es extrem viele. Es wird einfach mal etwas untersucht. Diese Untersuchung triggert eine Folge-Untersuchung bis hin zu einer Gewebeentnahme (Biopsie) oder Operation – und irgendwann passiert dann etwas. Deshalb muss man die Indikation immer sehr streng stellen. Je mehr wir untersuchen, desto mehr finden wir und desto mehr medizinische Maßnahmen triggert das. Und diese können dann wieder Komplikationen mit sich bringen. Deshalb sagt man: Ein gesunder Mensch ist ein Mensch, der noch nicht richtig untersucht wurde.
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Auch bei Vorsorge-Untersuchungen und Check-ups wird ohne Anlass untersucht.
Ja, das ist ein ganz entscheidendes Thema. Im vergangenen Jahr haben wir als Fachgesellschaft gegen die Pläne zum »Gesundes-Herz-Gesetz« gekämpft, das aber nun wegen des Scheiterns der Ampel-Koalition erst mal nicht umgesetzt wird. Das Gesetz war ein Paradebeispiel für schlechte Medizin: So sollten Gesundheitsuntersuchungen per Gesetz angeordnet werden, für die es keinerlei Wirksamkeitsbeleg gibt. Check-ups sollten ebenfalls ausgeweitet werden – auch ohne nachgewiesene Wirkung. Und das, wo die Hausärzte-Versorgung jetzt schon am Limit ist. Das heißt, es sollte Zeit und Geld verbrannt werden, aber beides haben wir in der hausärztlichen Versorgung nicht.
Empfehlen Sie den Leuten also, nicht zum Check-up zu gehen?
Das kommt darauf an. Der Check-up 35 ist sinnvoll, den sollte man unbedingt einmal machen. Die Pläne für das Gesetz sahen aber vor, dass schon Kinder auf erbliche Cholesterinprobleme gescreent werden sollten. Da sagen wir ganz klar: kein systematisches Screening, sondern Kaskaden-Screening. Das heißt, dass nicht alle Kinder, sondern nur die nächsten Verwandten eines Betroffenen untersucht werden. Ein anderes Beispiel: Auch für das Hautkrebs-Screening gibt es keinerlei Wirksamkeitsbelege. Nicht falsch verstehen, es ist vollkommen okay, wenn jemand den Arzt bittet, eine auffällige Stelle anzuschauen. Aber diese Gießkannen-Medizin ist das Problem, weil man dadurch Ressourcen verbrennt.
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