Ein neues Lehrerprekariat
Um den Unterrichtsausfall zu kompensieren, greifen viele Schulen immer häufiger auf schlecht bezahlte Vertretungslehrer zurück. Von Jürgen Amendt
Unterrichtsausfall ist ein ständiges Ärgernis in der Schulpolitik. Eltern klagen über Wissensrückstände bei ihren Kindern, Schulen über die hohe Belastung aufgrund fehlenden Personals. Wie viel Unterricht in Deutschland tatsächlich ausfällt, ist allerdings unklar. Bundesländer wie das Saarland, Niedersachsen oder Hessen liefern überhaupt keine Zahlen, andere wie Brandenburg, Sachsen oder Rheinland-Pfalz führen dagegen akribisch Buch. Doch selbst dort, wo gemessen wird, wird geschummelt. So werden etwa auch Stunden, in denen z.B. der Erdkundelehrer für den erkrankten Mathelehrer einspringt und die Schüler einen Film gucken lässt, in der Statistik als regulärer Unterricht geführt. Berlin kommt so offiziell auf einen Unterrichtsausfall von lediglich rund zwei Prozent.
Seit Jahren wird in den Ländern an einem System gebastelt, wie ausfallende Unterrichtsstunden kompensiert werden können, und zwar so, dass beiden Seiten - den Beschäftigten wie den Schülern - gedient ist. In der Regel werden Pädagogen mit Zeitverträgen beschäftigt, was immer wieder zu Konflikten zwischen Gewerkschaften und Schulverwaltungen führt. In Schleswig-Holstein etwa ging dieser Streit über viele Jahre. Im vergangenen Jahr hat die Kieler Landesregierung mit der GEW die Vereinbarung getroffen, Vertretungslehrer quasi fest einzustellen; die Lehrkräfte werden zwei Jahre lang als Springer beschäftigt und erhalten danach eine feste Planstelle.
Anders sieht es in Baden-Württemberg aus. Dort werden jedes Jahr vor Beginn der Sommerferien Tausende von befristet beschäftigten Lehrkräften in die Arbeitslosigkeit entlassen - und nach sechs Wochen mit Beginn des neuen Schuljahres wieder eingestellt. Proteste dagegen verhallten bislang ungehört. Gesa Bruno-Latocha von der GEW führt das auf die Arbeitsmarktsituation für Lehrer zurück. Im Westen der Republik gebe es mehr ausgebildete Lehrkräfte als freie Stellen, erläutert die Referentin im GEW-Bundesvorstand.
Lange Zeit konnten sich auch die Schulen in Berlin auf der Suche nach Vertretungslehrern aus einem gut bestückten Lehrermarkt bedienen. Seit einiger Zeit ist dieser aber wie überall im Osten Deutschlands leer gefegt; immer häufiger müssen sie bei der Organisation des Vertretungsunterrichts daher auf Studenten oder nichtpädagogisch ausgebildete Akademiker zurückgreifen.
Rund jede zehnte Unterrichtsstunde in Berlin wird mittlerweile von Vertretungslehrern erteilt. Diese sind über das sogenannte PKB-System beschäftigt, das sie zu Lehrern zweiter Klasse macht: Sie erhalten geringere Gehälter und befristete Arbeitsverträge. PKB steht für »Personalkostenbudgetierung« - über dieses System organisieren die Berliner Schulen selbstständig die Vertretung längerfristig ausfallender Kolleginnen und Kollegen.
Das PKB-System wurde vom Berliner Senat 2006 eingeführt, um den Unterrichtsausfall zu reduzieren. Die Schulen kümmern sich selbst um Vertretungen für erkrankte Lehrer und bekommen dafür zusätzlich drei Prozent ihres Personalbudgets zusätzlich. Mit diesen Mitteln bezahlen sie die Vertretungslehrer. Wenn etwas übrig bleibt, können Honorarkräfte für Projekte außerhalb des regulären Unterrichts engagiert werden. Die Projekte müssen allerdings dem Bildungsauftrag der Schule entsprechen (z.B. zusätzliche Sportkurse, Anti-Gewalt-Training oder Theater-AGs). Für Honorarkräfte darf maximal die Hälfte der PKB-Mittel ausgegeben werden.
Bis vor zwei Jahren zählte auch Micah Brashear zu diesen PKB-Kräften. »Wenn ich Glück hatte, liefen die Verträge drei oder vier Monate«, sagt er rückblickend. In der Regel sei er aber nur für zwei Monate eingestellt worden. Unterrichtsausfall ist nach seinen Erfahrungen ein Dauerzustand an Berlins Schulen. »Manchmal fehlten Lehrkräfte, die ich vertreten habe, schon ein oder zwei Jahre am Stück, ohne dass regulärer Ersatz dafür geschaffen worden wäre«.
Im Schuljahr 2014/15 konnten laut Berliner Senatsschulverwaltung 10,8 Prozent aller Schulstunden nicht regulär unterrichtet werden; davon wurden 8,8 Prozent vertreten. Die statistischen Werte sind seit Jahren stabil, so dass eine »Vertretungsreserve« von rund zehn Prozent an jeder Schule den Unterrichtsausfall kompensieren könnte. Würde die Personalausstattung an den Schulen generell mindestens 110 Prozent des Bedarfs entsprechen, dann könnte man sich den bürokratischen Aufwand mit dem PKB-System sparen, sagt deshalb der Leiter des Vorstandsbereichs Beamten-, Angestellten- und Tarifpolitik der Berliner GEW, Udo Mertens. Die Dimension des PKB-Systems ist beachtlich. Nach Auskunft der Senatsschulverwaltung wurden im vergangenen Jahr rund 3700 Vertretungsverträge in einem Umfang von annähernd 458 000 Unterrichtstunden abgeschlossen. »Das führt zu einem enormen Aufwand in den Personalstellen und den Personalvertretungen an den Schulen, die den Einstellungen der PKB-Kräfte ja zustimmen müssen«, kritisiert Mertens. Der Berliner Senat habe mit der Einführung des PKB-Systems administrative Tätigkeiten der Verwaltung quasi an die Schulen »outgesourct«.
Von einer »belastenden Situation für die Beschäftigten« spricht Christoph Wälz vom Personalrat des Bezirks Pankow. Das GEW-Mitglied hat 2013 zusammen mit Betroffenen die PKB-Initiative innerhalb der Berliner GEW ins Leben gerufen, nachdem immer deutlicher geworden war, dass das PKB-System für viele zu einer Beschäftigungsfalle geworden war. Viele Kolleginnen und Kollegen haben laut Wälz zwei Jahre und länger in diesem System gearbeitet. Die meisten hatten kein abgeschlossenes Lehrerstudium oder nichtpädagogische Berufe studiert. Vereinzelt seien Kolleginnen und Kollegen sogar sechs oder sieben Jahre lang als Vertretungslehrkraft im Rahmen des PKB-Systems eingesetzt worden, ohne je die Aussicht zu haben, sich weiterzuqualifizieren, berichtet Wälz.
Die Initiative löste sich 2014 auf, als der Senat aufgrund des Lehrermangels das Quereinsteigerprogramm startete. »Für viele war das die Chance, sich aus ihrer prekären Situation zu retten«, sagt Christoph Wälz. Das Problem prekäre Beschäftigung sei damit aber noch nicht aus der Welt, so Wälz weiter. Für den Berliner Senat sei es nach wie vor »finanziell attraktiv, über das PKB-System Lehrkräfte ohne volle Lehrbefähigung befristet einzustellen«, denn Vertretungslehrer werden in der Regel zwei Gehaltsgruppen schlechter als ihre festangestellten Kolleginnen und Kollegen bezahlt. Vereinzelt wurden in den vergangenen Jahren PKB-Kräfte sogar auf dem Niveau von Kinderpflegern, Heilerziehungspflegern oder Altenpflegehelfern entlohnt. Der Grund: Bezahlt wird nicht nach Tätigkeit, sondern nach beruflicher Vorbildung.
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