Der unbekannte Flüchtling
Sächsische Wissenschaftler forschen gemeinsam zu Integration und Rassismus
»Reisegenuss« stand auf dem Bus, mit dem eine Gruppe Flüchtlinge im Winter in Clausnitz eintraf. Doch die Aufschrift wirkte zynisch angesichts des aggressiven Mobs, der sie in dem Ort im Erzgebirge empfing und gern wieder vertrieben hätte. Gleichzeitig aber hatte ein Willkommensbündnis im Ort Obst und Kleidung besorgt; die Kinder der Neuankömmlinge lud man umgehend zum Fußball ein.
Die Frage, welche Wirkung solche widerstreitenden Eindrücke auf Zuwanderer haben; ob sie unter dem Eindruck oft massiver Ablehnung auf Distanz zur deutschen Gesellschaft gehen und mit welchen Erwartungen sie in dieser überhaupt ankommen, will jetzt ein Forschungsprojekt beantworten, das Wissenschaftler dreier sächsischer Universitäten sowie des Hannah-Arendt-Instituts (HAIT) aus Dresden ins Leben gerufen haben. Die Fragen seien »alles andere als trivial, und sie sind bisher von der Wissenschaft kaum beantwortet«, sagt Gert Pickel, der am Kompetenzzentrum für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung der Universität Leipzig arbeitet. »Wir wissen sehr wenig über Flüchtlinge, ihre Werte oder ihre Einstellung zu Demokratie und Freiheit«, sagt Steffen Kailitz vom HAIT. Umfangreiche Erhebungen mit Fragebögen und in Interviews sollen in den kommenden Monaten helfen, die Lücke zu schließen. Diese bestehe im Übrigen auch international, sagt die Chemnitzer Forscherin Antje Röder. Gleichwohl seien Erkenntnisse darüber, mit welchen Voraussetzungen Flüchtlinge in ein Land kommen und wie sie die hiesige Situation empfinden, »eine wichtige Komponente für eine gelingende Integration«.
Das Projekt »Flucht und Integration« (FLIN) ist dabei nur die erste Aktivität eines neuen Forschungsverbundes , der sich mit den Themen Integration, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus in Sachsen befassen soll und daher mit dem Akronym »IFRiS« betitelt wurde. Er sei gegründet worden angesichts einer im Freistaat besonders erbittert geführten Debatte um Zuwanderung, die zu großem Zulauf für asylfeindliche Bewegungen wie Pegida sowie zu einer bundesweit beispiellos hohen Anzahl von Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte führte. Von einer »bestürzenden Reaktion von Teilen der Gesellschaft« auf die Zuwanderung spricht HAIT-Direktor Günter Heidemann. Die Arbeit der Wissenschaftler ist nicht zuletzt von der Hoffnung getragen, die Debatte durch neue Erkenntnissen »versachlichen« zu können, sagt Kailitz; auch von einer »Eindämmung von Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit« ist bei den Beteiligten hoffnungsfroh die Rede.
In dem Projekt arbeiten Soziologen, Politikwissenschaftler, Mediziner und Theologen der Universitäten in Leipzig, Dresden und Chemnitz sowie vom HAIT zusammen. Das sächsische Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst (SMWK) hat als Anschubfinanzierung bis Ende 2016 zunächst 60 000 Euro bereit gestellt; weitere Mittel sollen nun eingeworben werden. Kailitz betont zwar, das Projekt gehe nicht auf einen Wunsch der Politik zurück; gleichwohl dürfte diese nicht undankbar sein, wenn die Ergebnisse auch in praktischer Politikberatung münden. Forschungen über Flüchtlinge in Deutschland seien »noch lückenhaft«, sagt Eva-Maria Stange (SPD), Wissenschaftsministerin im Freistaat: »Deshalb brauchen wir dringend Erkenntnisse, wie Integration gelingen kann«.
Wie schnell diese freilich bereit stehen, bleibt abzuwarten. Es sei »unrealistisch«, bis Ende 2016 bereits fundierte Ergebnisse oder auch nur den Abschluss der geplanten repräsentativen Befragungen zu erwarten, sagt Gert Pickel. Allenfalls sei mit ersten, vorläufigen Ergebnissen zu rechnen. Pickel merkt an, dass es hohe sprachliche und kulturelle Hürden zu überwinden gilt und man bisher kaum auf erprobte Werkzeuge oder Fragebögen für Erhebungen unter Zuwanderern zurückgreifen kann. Pickel spricht von »Grundlagenforschung«; Kaulitz sagt: »Das ist Pionierarbeit.« Ein Umstand, der um so mehr erstaunt, als die »Gegenseite« umfangreich erforscht ist: Zu Motivlagen oder sozialem Hintergrund der Anhänger von Pegida wurden seit Ende 2014 reihenweise Studien veröffentlicht. Eine weitere von »IFRiS« ist zumindest vorerst nicht zu erwarten.
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