Billiger Nachmittag

Der Ausbau der Ganztagsschulen in Deutschland wird durch mangelnde Ressourcen und fehlende Fachkräfte gebremst. Von Thomas Gesterkamp

  • Thomas Gesterkamp
  • Lesedauer: 5 Min.

Schule war in der alten Bundesrepublik über Jahrzehnte eine zeitlich knapp bemessene Veranstaltung. Um 13 Uhr spätestens läutete der Gong, daheim wartete (im günstigen Fall) Mama mit einem warmen Essen. Kantinen gab es ebenso wenig wie Angebote am Nachmittag, dafür einen Berg Hausaufgaben. Unionspolitiker warnten regelmäßig vor der staatlichen Vereinnahmung von Kindern, wollten Bildungsreformer daran etwas ändern. Der Ganztagsbetrieb galt als Gift für die Familie, als rotes Bildungsprojekt und Vorbote des Sozialismus. In Wahrheit war die Halbtagsschule stets ein (west)deutscher Sonderweg. Denn nicht nur jenseits des eisernen Vorhangs, auch bei anderen europäischen Nachbarn, etwa in Belgien oder Frankreich, fand der Unterricht selbstverständlich ganztags statt.

Die miserable Bewertung des deutschen Schulsystems in den PISA-Studien änderte die Sichtweise bis weit in konservative Kreise hinein. Plötzlich avancierte die Ganztagsschule zu einem Teil der Lösung, sie sollte gerade Kinder aus bildungsfernen Schichten fördern und Chancengerechtigkeit herstellen. 2003 stellte die damalige rot-grüne Bundesregierung vier Milliarden Euro bereit, um den Ausbau der Schule am Nachmittag zu forcieren. Zuständig für die Umsetzung waren im deutschen Bildungsföderalismus die Länder, so entstand ein regionaler Flickenteppich. »Es mangelt an gemeinsamen Standards«, zu diesem Ergebnis kommen jetzt die Bildungsforscher Klaus Klemm und Dirk Zorn im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung.

In ihrer kürzlich veröffentlichten Studie nennen sie Beispiele. So verbringen hessische Kinder 22 Extrastunden pro Woche an der Schule - in Thüringen oder Nordrhein-Westfalen sind nur acht vorgesehen. Im Bundesdurchschnitt erhält eine deutsche Grundschulklasse 23 000 Euro jährlich für zusätzliches Personal; die Höhe der Investitionen schwankt jedoch zwischen 9000 Euro in Bremen und 52 000 Euro im Saarland. In den weiterführenden Schulen der Sekundarstufe I reichen die Mehrausgaben pro Klasse von 1300 Euro in Sachsen bis zu 37 000 Euro in Rheinland-Pfalz. Erweiterte Lernzeiten und eingesetzte Gelder seien in vielen Ländern nicht aufeinander abgestimmt, heißt es in der Untersuchung. Eine gute Relation »bieten in allen Stufen lediglich Berlin und das Saarland«.

In der Bertelsmann-Studie wurden ausschließlich gebundene Ganztagsschulen untersucht, die verpflichtenden Unterricht an mindestens drei Wochentagen für je mindestens sieben Stunden abhalten. Der sogenannte offene Ganztag mit freiwilligen Angeboten am Nachmittag blieb in der Expertise außen vor, angeblich wegen der schlechten Datenbasis. Dass dieses Modell in den meisten Bundesländern überwiegt, weiß natürlich auch Forscher Klemm. Er hält wenig von solchen improvisierten »Lösungen«, will statt dessen den gebundenen Ganztag zur Regel machen. Nur dieser habe »das Potenzial, Nachteile, die Kinder im Elternhaus haben, abzufedern«. Das Ziel müsse sein, den Unterricht zeitlich zu entzerren und durch eine intensive Förderung die Bildungschancen einkommensschwacher Familien zu verbessern.

»Offener Ganztag«, das heißt vielerorts weiterhin Vormittagsunterricht nach altem Muster, ergänzt von der Beaufsichtigung durch Niedriglöhner am Nachmittag. An den meisten Schulen gibt es nach wie vor keine richtige Küche, oft nicht einmal eigene Räume für die Mittagspause - gegessen wird dann auf den Fluren, im Pausenhof oder gar im Klassenzimmer. Fast alle Lehrer und Lehrerinnen sind wie gewohnt um 13, spätestens aber um 14 Uhr verschwunden, die Versorgung der Kinder übernehmen dann freie Träger, Eltern oder Ehrenamtliche aus Vereinen. Die Kooperation zwischen dem fest angestellten Stamm und den auf Stundenbasis tätigen Betreuern funktioniert selten gut. »Wenn Lehrer und Erzieher zusammenarbeiten wollen, müssen sie das unbezahlt in ihrer Freizeit tun«, beschreibt Stefan Clotz seine Erfahrungen. Als Unternehmensberater coacht er pädagogische Fachkräfte an Schulen.

Die vorherrschende Billigvariante verfehlt die Erwartungen, die in das vor über einem Jahrzehnt gestartete Bundesprogramm gesetzt wurden. Ein schlüssiges Gesamtkonzept sieht anders aus. »Es gibt in den wenigsten Ländern verbindliche Vorgaben, wer den Ganztag wie gestalten soll«, kritisiert Natalie Fischer von der Universität Kassel. Sie arbeitet mit an der Langzeituntersuchung StEG - Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen. Dieser zufolge klagt ein Drittel der befragten Schulleiter über fehlende Ressourcen und über Probleme, geeignetes Personal zu finden.

Wer auch am Nachmittag die Schule besucht, steigert nicht automatisch seinen Lernerfolg. Im Auftrag des Bundesbildungsministeriums prüften am StEG-Projekt beteiligte Wissenschaftler die Kompetenzentwicklung im Lesen und in den Naturwissenschaften. Sie verglichen Kinder und Jugendliche, die an fachlich orientierten Zusatzangeboten teilgenommen hatten, mit Mitschülern, die nur vormittags anwesend waren. Das Resultat: Die Ganztagsschüler erzielten keine besseren Leistungen. Sie waren im Schnitt aber motivierter, selbstbewusster und sozial zugewandter.

Die einheitliche Ganztagsschule als Regelangebot, wie in den meisten Nachbarstaaten üblich, existiert in Deutschland nach wie vor nicht. Der groß angekündigte Ausbau hat seine pädagogischen Ziele weitgehend verfehlt. Erleichtert wurde immerhin die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für erwerbstätige Eltern. Denn in immer weniger Haushalten kocht mittags die Mama, die Beschäftigungsquote von Müttern ist auch im Westen Deutschlands deutlich gestiegen - allerdings häufig auf der Basis von Teilzeit- oder Minijobs.

Solange die Zeit nach dem Mittagessen als freiwilliges Zusatzangebot deklariert ist, dürfte sich wenig bewegen. Das Hauptproblem ist gar nicht so sehr der in der Bertelsmann-Untersuchung zu Recht kritisierte föderale Flickenteppich. Es fehlt schlicht an der Bereitschaft der Bildungspolitik in Bund und Ländern, die gebundene Ganztagsschule als Pflicht für alle Heranwachsenden flächendeckend einzuführen. Das kostet auch nicht einmalig vier Milliarden Euro, wie das lobenswerte Pilotpaket von 2003, sondern nach Schätzungen des Bildungsforschers Klaus Klemm um die zehn Milliarden Euro. Jährlich!

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