Vom Werden und Vergehen

Im Konzerthaus dirigierte Dmitrij Kitajenko Werke von Milhaud, Prokofjew und Mussorgski

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 3 Min.

Einen schönen französisch-russischen Akzent setzte das Konzerthausorchester am Wochenende an drei Abenden. Ausgebucht trotz Fußball-EM das Samstagkonzert, das hier in Rede steht. Freude bereitete allein, jenes Milhaud-Stück anzuhören, das »La création du monde« heißt.

Es entstand 1923 als ein Ballett, das die Erschaffung der Welt darstellt. Beteiligt an der Arbeit seinerzeit der Autor Blaise Cendrars und der Maler und Bühnenbildner Fernand Léger. Jene Welt zu kreieren, wird selbstredend von Göttern angetrieben. Aus Erdmassen, so die Überlieferung, wachsen merkwürdige tierische und pflanzliche Gebilde heraus. Die zarten Ungetüme Mann und Frau erstehen und vereinigen sich in einem wilden Tanz. Mit dem Frühling als Inkarnation des Werdens und Vergehens endet das Ballett. Darius Milhaud hatte im Entstehungsjahr New York besucht und wurde Zeuge der Jazz-Bacchanals in Harlem und anderswo. Blues and Trouble flossen in seine Musik ein. Derlei zu tun, war damals schick. Fast alle von Darius Milhauds komponierenden Zeitgenossen haben sich davon anstecken lassen. Die Infektion ging auch wieder vorüber. Jazz-Integration in die »E-Musik« war wirklich eine zeitweilige Erscheinung.

Hinreißend die Wiedergabe von »La création du monde« für 14 Instrumentalisten. Dmitrij Georgijewitsch Kitajenko, dem hoch aufgeladenen weltliterarischen Erbe verpflichtet und nach allem, was er gemacht hat, der Moderne gegenüber eher abgeneigt, fühlte sich sichtlich wohl, diese verwegenen Tonkreationen freien Lauf lassende Musik zu dirigieren. Eine Art Blues-Fuge steht zu Beginn, das Altsaxophon singt darin anrührende Melodien. Dann Tollheit über Tollheit in Gestalt einer Kette swingender Elemente, in denen das Instrument des Soloklarinettisten Ralf Forster sich im Klirr- und Quietschregister geradezu heiß singt.

Ein Kurzporträt des Dirigenten sei hier eingeschoben: Nachdem der seinerzeit 86-jährige Michael Gielen, hoch geschätzt von den Musikern, als »Ständiger Gastdirigent« ausschied, nominierte das Konzerthaus Kitajenko zu seinem Ständigen Gastdirigenten. Eine kluge Wahl. Der in besten Schulen der Sowjetunion Ausgebildete und langjährige Leiter des Moskauer Philharmonischen Orchesters wird zwar im August auch schon 76, doch was heißt das in dem Metier schon. Kitajenko gehört - sportiv gesagt - zu den Weltbesten unter den Dirigenten. Mann mit ungeheurer Erfahrung und beschlagen im weltliterarischen Bereich so sehr wie im russisch-sowjetischen Repertoire. 1990 verließ er Moskau und feierte Erfolge als Chefdirigent renommierter Orchester in Schweden, Dänemark, der Schweiz, Südkorea. Daneben Gastdirigate in aller Welt.

Wichtig: Vor 1990 hatte er in sozialistischen Ländern vor ersten Orchestern gestanden. Alles andere als ein Unbekannter blieb er auch in der DDR. Zentrale Programme des Funkhauses Nalepastraße in Berlin übertrugen Kitajenko-Konzerte aus Moskau, Leningrad, Prag, Warschau und anderen Orten. Kurt Masur lud ihn ein, das Gewandhausorchester Leipzig zu dirigieren. Programme bot er mit dem Berliner Sinfonieorchester, der Dresdner Philharmonie, dem Rundfunksinfonieorchester Berlin, um nur diese zu nennen. Redakteurinnen und Redakteure, voran die hoch geschätzte Freia Dreißig von Radio DDR II, brachten Sendungen mit und über Kitajenko und beschäftigten sich mit zahllosen anderen Musiker- und Komponistenpersönlichkeiten der UdSSR. Die gesamte sowjetische Präsenz und Wirkung im Musikleben der DDR ist geschichtlich ein hoch bedeutender Komplex. Er bedürfte der wissenschaftlichen Erschließung.

Prokofjews 7. Sinfonie von 1951, die letzte aus seiner Feder, kam unter Dmitrij Kitajenko erfahrungsgesättigt. Kein Pultstar unter den Pultstars dürfte dessen Partituren besser kennen und besser umsetzen können als Kitajenko. Modest Mussorgskis »Bilder einer Ausstellung« in Ravels Instrumentierung kommen oft. Aber wie sie am Ende dieses Abends erklangen, bewirkte, dass einem jedes einzelne »Bild« in die Glieder fuhr, so traurig, so trostlos, so erhaben diese Musik. Nicht mal der glockenschwere, monumentale Schlussteil mit dem Bild »Das Große Tor von Kiew« erhebt einen. Er schmettert nieder.

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