»Sichere Herkunftsstaaten«: Alle schauen auf die Grünen
Fraktionschefin Göring-Eckardt gegen Nachverhandlungen: »Wir brauchen einen neuen Vorschlag« / Wie entscheiden sich Grüne in Baden-Württemberg und Hessen? / Ex-Minister Trittin warnt seine Partei vor einem Ja
Berlin. Kurz vor der geplanten Abstimmung im Bundesrat hat Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt weitere Verhandlungen im Streit um die Einstufung der Maghrebstaaten als angeblich sichere Herkunftsländer abgelehnt. »Wo gefoltert wird, ist es nicht sicher«, sagte Göring-Eckardt der »Passauer Neuen Presse« mit Blick auf Algerien, Tunesien und Marokko. »Wir brauchen keine Nachverhandlungen über die sicheren Herkunftsländer, wir brauchen einen neuen Vorschlag, wie man das Problem der Migration aus Nordafrika real in den Griff bekommt.«
Göring-Eckardt regte an, abgelehnten Flüchtlingen aus diesen Ländern die Rückkehr mit finanziellen Beihilfen schmackhaft zu machen. »Das können Mikrokredite oder die Anschubfinanzierung für ein kleines Gewerbe sein«, sagte die Fraktionschefin. »Das ist billiger als eine zwangsweise Rückführung und hilft auch den Menschen.« Zudem müsse die Bundesregierung die Bereitschaft der Herkunftsländer zur Rücknahme abgelehnter Flüchtlinge durchsetzen, anstatt diese Länder als sicher einzustufen.
Mit einer von der Großen Koalition auf den Weg gebrachten Neuregelung, über die am Freitag der Bundesrat abstimmt, sollen Marokko, Algerien und Tunesien zu sicheren Herkunftsländern erklärt werden. Damit will die Bundesregierung die Asylverfahren von Flüchtlingen aus diesen Ländern beschleunigen. Ziel der Neuregelung ist es, Asylbewerber aus den nordafrikanischen Staaten Tunesien, Marokko und Algerien schneller abschieben zu können. Für eine Mehrheit sind aber auch Stimmen aus Bundesländern nötig, in denen die Grünen an der Regierung beteiligt sind. Eine ausreichende Zustimmung von Seiten der Grünen galt zuletzt aber als praktisch ausgeschlossen. Dazu müssten mindestens drei der zehn Länder zustimmen, in denen die Grünen in der Regierung sitzen. Schwarz-Rot hatte sich zu Nachverhandlungen bereit erklärt, um den Bedenken der Grünen Rechnung zu tragen.
Derweil deutet sich eine Zustimmung Baden-Württembergs im Bundesrat an. Damit würde Ministerpräsident Winfried Kretschmann den grün-schwarzen Koalitionsstreit in Stuttgart beilegen, sich aber zugleich gegen den Kurs seiner Partei stellen, die das Gesetz ablehnt. Grundlage für Kretschmanns Entscheidung ist nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur ein Kompromissangebot. Wie die dpa am Mittwoch aus Kreisen der Koalitionsparteien in Stuttgart erfuhr, soll es eine zusätzliche Vereinbarung geben. Danach sollen besonders gefährdete Gruppen wie Homosexuelle, politische Akteure und Journalisten aus den Maghreb-Staaten weiter Schutz erhalten. Der Kompromiss würde damit auf eine Stellungnahme des Bundesrates vom März eingehen. Demnach könnte die Bundesregierung den Ländern auch mit einer Altfallregelung für langjährige Asylverfahren entgegenkommen.
Die meisten grün-mitregierten Länder neigen zur Enthaltung, was faktisch einem Nein entspricht. Bereitschaft zum Umschwenken deutete sich am Mittwoch aber auch im schwarz-grün regierten Hessen an. »Wir verhandeln und ich bin nach wie vor der Auffassung, dass man hier zusammenkommen kann«, sagte Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU). Er werbe dafür, auf der Ministerpräsidentenkonferenz an diesem Donnerstag in Berlin einen gemeinsamen Weg zu finden. Falls nicht, wäre die Anrufung des Vermittlungsausschusses das beste Verfahren, sagte Bouffier.
Die rot-grüne Landesregierung Niedersachsens will sich voraussichtlich enthalten, will sich nach Angaben einer Sprecherin aber erst am Donnerstagabend endgültig festlegen. Auch das rot-grün regierte Nordrhein-Westfalen mache das Votum abhängig von den weiteren Beratungen mit Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU), sagte Innenminister Ralf Jäger (SPD) in Düsseldorf.
Die Bundesregierung setzt weiterhin auf eine Einigung mit den Ländern. »Wir hoffen weiter, dass der Bundesrat dem Gesetz zustimmen wird, das aus unserer Sicht gut begründet ist«, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert.
Kretschmann hatte bereits Ende 2014 für einen Asylkompromiss und die Einstufung einiger Balkanstaaten als sichere Herkunftsländer gestimmt, auch damals hatte es Ärger mit der Partei gegeben.
Grünen-Außenpolitiker Jürgen Trittin warnte seine Parteifreunde in den Ländern davor, für die Asylpolitik der großen Koalition zu stimmen. Homosexualität werde in allen drei Maghreb-Staaten mit Gefängnis bestraft, sagte Trittin den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Es komme zu Verfolgung von Journalisten und Oppositionellen, und in einigen Polizeistationen werde Folter als normales Mittel der Beweisführung angesehen. Bereits jetzt ist die Zahl der Flüchtlinge, die aus Maghreb-Staaten nach Deutschland kommen, überschaubar. Die sogenannte Schutzquote liegt für Marokkaner laut Innenressort derzeit bei 2,2 Prozent, für Algerier bei 1,4 Prozent und für Tunesier nur bei 0,5 Prozent. Agenturen/nd
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