Dann zittern Hipster vor der Arbeiterfaust

In seinem Roman »Großer Bruder Zorn« trifft Johannes Ehrmann den ganz speziellen Sound des Wedding

  • Christian Baron
  • Lesedauer: 5 Min.

Zwanzig Glaspullen und ein paar aus Plastik, das ist für Montagmorgen eine Wahnsinnsbilanz. Erbeutet hat sie aber auch nicht irgendwer, sondern der Flaschenfascho. Bei seinen Streifzügen auf der Suche nach Pfandgut orientiert er sich an dem, was ihm einst im Staatsdienst der DDR eingebläut wurde: »Objekte überwachen; Gelände erkunden: Fühlung halten. Spähen in Längsrichtung.«

Jahrzehnte ist es schon her, da ergriff er in einer winterkalten Nacht die Gelegenheit zum »Rübermachen«. Seitdem verarmt der Flaschenfascho rund um das ehemalige Grenzgebiet des Wedding. In DDR-Uniform schlurft er mit seinem Einkaufswagen vom Leopoldplatz nach Gesundbrunnen, um auf dem Flakturm Humboldthain sein Berliner Pilsener zu genießen und die Jagd auszuwerten. Bevor er sich zum Späti begibt, um Kasse zu machen, gönnt sich der abgehalfterte Ex-Grenzer noch den Panoramablick, von dem er behauptet, er reiche bis hin zum Nettelbeckplatz.

Unweit dieses berüchtigten Ortes inmitten einer noch immer verrufenen Gegend sitzt Johannes Ehrmann im »Simit 24« bei einem Çay und muss lachen. Ja, auf die Figur des Flaschenfascho werde er am häufigsten angesprochen, wenn es um seinen Debütroman »Großer Bruder Zorn« gehe. »Vielleicht«, vermutet der Autor, »fasziniert an ihm das Undurchdringliche«. Als Leser weiß man zwar mehr über diesen Mann als jene Kneipenkompagnons, die ihm seinen Spitznamen verpasst haben, die Parteinahme für und gegen diese Nebenfigur fällt aber tatsächlich schwer, gerade weil sie in ihrer Widersprüchlichkeit so stimmig gezeichnet ist.

Dabei haben es auch die Protagonisten in sich: Da ist der Deutsch-Grieche Aris, der mal ein hoffnungsvolles Boxtalent war und jetzt die Privatinsolvenz abzuwenden versucht, indem er noch mal ein ganz großes Ding dreht: einen Boxabend, also eine echte »Fight Night« mitten im wilden Wedding. Und da ist zum anderen der Spätiverkäufer Serdar vom (fiktiven) Bellermannplatz, den Aris für den Hauptkampf gegen einen muskelbepackten Rocker gewonnen hat.

Verbirgt sich hinter diesem Personentableau ein Ansatz von Kitsch und Klischee? Eine Frage, auf die der Autor fast schon pikiert reagiert: »Es ist ja nicht so«, sagt er beim Verlassen des Cafés, »dass ich im stillen Kämmerlein geschrieben hätte«. Womit er auch wieder recht hat: Nicht nur, dass Ehrmann selbst im Wedding lebt. Von Hause aus eigentlich Sportjournalist, beauftragte ihn der »Tagesspiegel« 2014, sich hier unters Volk zu mischen und darüber zu schreiben.

Herausgekommen sind Reportagen und Kolumnen, die dem heute 33-Jährigen den Theodor-Wolff-Preis einbrachten. »Mir ist schnell aufgefallen«, sagt er beim Stapfen über die Müllersraße, »dass sich im Wedding unglaublich viele Romanfiguren tummeln«. In einer Eckkneipe sei ihm etwa eine Wirtin mit typisch zupackender Art aufgefallen. An diesem Abend habe er beschlossen, eine entsprechende Figur in seinem Buch »Ilona« zu taufen: »Am frühen Morgen, als fast alle Gäste schon weg waren, stellte sie sich mir dann in einer ruhigen Minute vor - sie hieß wirklich Ilona!«

Während Ehrmann nahe der S-Bahn-Station »Wedding« weitere Geschichten von der Ilona-Sorte zum Besten gibt, riecht es nach diesem speziellen Wedding-Mix aus schweißstinkendem Lotterleben und auf Geschäftstüchtigkeit verweisender Parfümwolke. »Hier mag das Scheitern zu Hause sein«, sagt Ehrmann, »aber nur mit dem Immer-Wieder-Aufstehen ohne großes Brimborium ist dieses Fleckchen Erde zu begreifen«.

In seinem Buch liest sich das dann so: »Wenn du glaubst, das hier ist der Zoo, kriegst du eine. Wenn du glaubst, du bist die Heilsarmee, kriegst du eine. Wenn du glaubst, du bist Gandhi, gibt›s richtig. Wir sind, wer wir sind. Normale Leute. Nichts Besonderes. Was soll schon sein.« In kurzen, schnellen Kapiteln erzählt der Roman von der Woche bis zum Showdown im und um den Boxring und findet einen realistischen, aber keineswegs naturalistischen Sound. Das verleiht der Handlung einen filmischen Touch, der den Menschen zu einer Sprache verhilft, wo sonst nur über sie geschrieben und gesprochen wird.

Am »roten Netto« angekommen, spielt sich - wie so oft in diesem auf Gedeih und Verderb immer nur Kosten sparen wollenden Discounter - fast wortgleich jene Szene ab, die im Buch so geschrieben steht: »Heute hat einer drei Tüten voll in den Leergutautomaten gestopft, gab Stau, klar, rotes Lämpchen. Und dann wie immer das Gezeter, hallo, he, könnense ma, na Sie ham ja die Ruhe weg, watn Drecksladen.«

Ehrmann will sich hier für die Reise zu seiner Lesung nach Köln mit Proviant eindecken. An der Kasse unterhalten sich zwei junge Frauen auf Englisch über einen vor ihnen stehenden, nicht ganz taufrisch wirkenden Mann mit rot gefärbten Haaren, in dessen Wagen zehn »Sternburg«-Flaschen um die Wette klirren.

Eine der Damen macht sich über das Aussehen des Typen lustig und bittet ihre gackernde Freundin: »Please, take a photo!« Um die ewige Wedding-Frage kommt Ehrmann jetzt nicht herum: Schicken sich die mietpreistreibenden Hipster an, das Viertel zu übernehmen? Der Schriftsteller lächelt nur - und antwortet mit seinem auktorialen Erzähler: »Wenn du Kellner sehen willst, die auf Spanisch über die Einsamkeit philosophieren, dann hock dich eben in die U 8 und fahr runter nach Neukölln!«

Vom »Roten Wedding«, den Ernst Busch einst mit Zeilen wie »Dann zittert der Feind vor der Arbeiterfaust« verklärte, sei natürlich wenig übrig. Dieser Wunsch, sich buchstäblich durchzuboxen und sich nicht dauerhaft ins soziale Abseits drängen zu lassen, das sei aber geblieben. Wäre das ein Mittel gegen die drohende Gentrifizierung, die Liedzeile müsste heute wohl lauten: »Dann zittern Hipster vor der Arbeiterfaust.«

Wie zum Beweis zeigt Johannes Ehrmann später auf eine Häuserfront in der Pankstraße, auf der jene Brüder Boateng zu sehen sind, die in einem Weddinger Fußballkäfig einst das Kicken gelernt haben. Gesponsert sei das Ganze von einem bekannten Sportartikelhersteller, was den Leuten jedoch herzlich egal sei, weil sie sich mit dem Spruch über den Heldenköpfen prima identifizieren können: »Gewachsen auf Beton«.

Johannes Ehrmann: Großer Bruder Zorn, Eichborn, geb., 400 S., 19,99 €.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!