Leben? Ein Kartenspiel: »Ich passe!«

Martin Kušej inszenierte am Residenztheater München Tschechows »Iwanow«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Der Birkenwald hat ausgedient, die Kirschgärten wurden abgesägt, Samoware sind ebenfalls erledigt. Theater der Zeit: Russland kam herunter zur Moderne. Zum Herrn der Szene hat sich der Staub erhoben, der sich auf alles setzt. Die Luft ist das, woran man erstickt. Im Münchner Residenztheater inszenierte Intendant Martin Kušej »Iwanow« von Anton Tschechow, die Bühne von Annette Murschetz zeigt schmutzgraue Wände in einem Wohnhaus oder gleißend weiße Wände in einem Salon. In beiden Höhlen tropft Zeit, fließt Alkohol, brodelt geradezu der Stumpfsinn. Und eben: Der Staub stiebt. Und an die zwanzig wirr verteilte Stühle erzählen die Geschichte vom Wartezimmer, von der aufgelösten Versammlung - jeder, der hier aufsteht, ist deshalb noch lange keiner, der durch die verschlossene Doppeltür den Weg in ein offenes Gelände fände. Nur einer findet: den Tod. Iwanow.

»Wer bin ich? Was will das besagen: die Welt?« Sören Kierkegaard. Eine Stimme aus dem Off, und doch eine Stimme tief drinnen, im Kopf dieses Iwanow. Der haltlos wankt, die Pistole in der Hand. Der Anfang der Inszenierung als Albtraumfetzen - der den Schluss vorwegnimmt. Das ist bleiern bedrohlich. Iwanow - zersplissenes Hirn, geknackter Schädel. Thomas Loibl gibt einen tonlosen Schwätzer. Wenn er geht, geht ein Schatten, der einen Schatten sucht. Um sich drin aufzulösen. Wenn er spricht, haucht sich Sprache aus. Er döst, schleicht sich in eine trockne Abwesenheit hinein, stolpert sich durch eine aasig vorgetäuschte Aufsässigkeit, lehnt an der Wand, als sei sie sein Körperorgan. Der ewig den Schuldigen spielende Lügner - weswegen er immer einer Wahrheit hinterherjagt. Um sie zu verraten.

Die da greinen, giften, gähnen, sind wie ölige Lappen, die sich ins Gegebene einschmieren. Man konvertiert, man verstößt einander, man hat Schwindsucht und Schulden. Alles, was in dieser Aufführung jung ist, identifiziert Geltung mit Geld, und Sinnsuche ist Zinssuche. Und das Alter? Gelt sein schütteres Haar und trägt Boxershorts oder Neureichtum durch die Öde. Das schlurft und schläfert, scharwenzelt und schnieft, das schnauzt und schwächelt. Die gängige Kartenspielvokabel als Lebenscredo: »Ich passe!« Das bedrängt, das befällt, das saugt an dir. Oliver Nägeles kugelrunder Lebedjew schickt sich mit dem wehleidigen Witz eines Windelweichen in die Ausweglosigkeit seiner Ehesklaverei, und Sophie von Kessels Anna, beschmäht als »Judenschlampe«, wirbt wallend um den Ruf einer lustvoll Leidenden - aus folterndem Hüsteln findet ihr Ton irgendwann zu peitschender Schärfe. Der Arzt Lwow ist bei Till Firit ein harscher Empörer, behaftet aber mit dem Makel aller Moralisten: diesem maßlosen Hang zur eifernd beflissenen Selbstfeier.

Als Dimiter Gotscheff das Stück an Berlins Volksbühne inszenierte, mit Samuel Finzi in der Titelrolle, da überholte Tschechow clownesk den gesamten Beckett. Den bislang genialsten »Iwanow« freilich erschuf vor vielen Jahren Peter Zadek in Wien, mit Gert Voss. Zadek zeigte zart Menschen; Martin Kušej beizt ein Zustandsbild. Zadek liebte, ohne nach Gründen zu fragen; Kušej hat ergründet und kann daher nicht lieben. Zadek schaute in die Welt wie einer, der sich in nichts reinhängt; Kušej sieht nur, dass er mit drinhängt. Im modernen Elend, das wir alle bilden. Wo sich jeder sehr befreit vorkommen darf - aber was bedeutet Freiheit im Vakuum? Sie gebiert Leute, die statt ihrer Souveränität nur einen Erregungs-Input und -Output haben. Jeder träumt, er selbst zu sein, weil er nichts Besseres mehr zu tun hat. Jeder posaunt, panisch oder paralysiert, mit Selbst-Bewusstsein herum, weil er so was wie Einzigartigkeit verlor oder nie erfuhr.

Nur manchmal, da können sich diesem innenleeren Iwanow die Blicke tatsächlich noch wie etwas Lebendiges nach außen kehren, dann hebt Löbl sein Gesicht, und in der Starre dieses kurzen Blicks blitzt, für einen Moment, die ganz andere Welt auf. Der Mensch nicht mehr erschöpft, sondern geschöpft. Alles ist plötzlich möglich. Vielleicht sogar Liebe. Aber Liebe wäre nur wieder: Ehe, und also ist die Welt schnell wieder - Nichts. Und der Intellektuelle ist nur wieder der nölende, murmelnde, unentschiedene Unterbeamter einer Auslöschungsära. Hier und Heute.

Kušej war immer ein Kraftkerl und Konsenssprengmeister. Hauptworte für seinen künstlerischen Ruf sind Härte, Bosheit. Ergreifend kriegerisch seine Ansage gegen den Zustand von Welt und Seelen. Hier provoziert er - wie manchmal schon - mit Lauheit, mit konsequent hervorgekehrter Langsamkeit. Metronom statt Melodie. Riskant: Man könnte nicht die Welt, sondern seine Arbeit langweilig finden. Das ist die Reaktionsart derer, die sich in Theatersitzen grundsätzlich nur konsumierend zurücklehnen, weil sie bespielt, aber nicht behelligt werden wollen. Aber ist nicht gerade dies die bösest mögliche Wahrheit? Das Ausspielen der Lethargie? Menschen, als seien ausgelaugte Batterien dazu verdammt, die Welt anzutreiben? Denn: Es geht doch heute um nichts mehr. Der Konsens als Katastrophe. Es findet kein Drama mehr statt. Verrat. Na und? Mord. Na und? Lüge. Na und? Ehre? Lächerlich. Gespräch? Nein, nur (mediales) Geplänkel aneinander vorbei. Schmerzzufügung als Zeitvertreib: He, warum verletzt du mich nicht, bin ich dir so gleichgültig?!

Das treibt bei Kušej die Tragödie augenblicksschnell in den kruden grellen Schwank, und das haut der Komik stumpfe Wundmesser ins Grinsen. Das alles nur immer kurzzeitig eruptiv - in einer über dreistündigen Gummibandbreite. Wenn sich Iwanow erschießt, wirkt er freilich entschlossen, hellsichtig, er scheint genau zu wissen, was lange Zeit nach ihm Antonin Artaud über den Selbstmord schreiben wird: »Wenn ich mich töte, so werde ich es nicht tun, um mich zu zerstören, sondern um mich wiederherzustellen und dem ungewissen Vorsprung Gottes zuvorzukommen. Ich befreie mich von der Bedingtheit meiner Organe, die so schlecht mit meinem Ich übereinstimmen.« Und doch schaut er sich noch einmal um, als sei da vielleicht eine Seele, ihn zu retten. Nein, nichts ist.

Soll Theater Spiegel sein, der scherbt? Oder Stein, der fliegt? »Nur« Zustände erfassen oder kämpferisch Zuständigkeit anstacheln? Die Verhältnisse zum Tanzen bringen? Kühne Idee am Ort, wo wir leben: auf dem kippelnden Felsbrocken, der mühsam Balance hält. Zukunft ist, was von ihr übrig blieb und warenglänzend in den Regalen unserer Kaufländer lagert - wir sind heute schon das Museum unserer künftigen Möglichkeiten. Und wie es sich für Museen gehört: Bitte nicht berühren!, steht auf dem Schild vor unseren Seelen, die sich vor Verletzbarkeit schützen müssen. Was hilft der Welt mehr? Radikale Veränderungsphantasien oder die Angst davor? Wer weiß. So jedenfalls kam es, dass der Staub, den wir gern aufwirbeln, weniger Wahrheit erzählt als jener Staub, der sich senkt. Kušejs starker Theaterabend setzt sich hin und sucht seine eigenen Räume mit langen Blicken nach Stillständen ab. Und ein Mensch griff zur Waffe, weil er endlich begriff: Am komischsten, am traurigsten, am unerträglichsten sind jene, die täglich ihr Leben ändern wollen.

Nächste Vorstellungen: 30. Juni, 5., 16., 20. Juli

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