Ein Universum im Kopf
Wissenschaftler haben einen neuen Atlas des Gehirns erstellt. Er bringt uns dem großen Rätsel näher, wie das menschliche Denkorgan funktioniert
Es mag heute sonderbar anmuten, aber für viele antike Gelehrte war nicht der Kopf der Sitz der Seele und des Intellekts, sondern das Herz. Zwar besaßen vor allem die alten Griechen recht gute anatomische Kenntnisse über das menschliche Gehirn, doch dessen wahre Funktion blieb ihnen verborgen. Aristoteles zum Beispiel beschrieb das Gehirn als Kühlaggregat, welches dazu diene, die Temperatur des durch die Nahrung erhitzten Blutes zu senken.
Dass das Gehirn mehr ist als eine schlaffe Kühlmasse, bemerkte um 400 v. u. Z. der griechische Arzt Hippokrates. Bei der Untersuchung von verletzten Soldaten war ihm aufgefallen, dass Schädigungen auf der einen Seite des Gehirns Krämpfe auf der entgegengesetzten Körperseite zur Folge hatten. Auch der im zweiten Jahrhundert geborene griechische Arzt Galen zweifelte nicht an der Bedeutung des Gehirns für das menschliche Seelenleben. Allerdings galt seine Aufmerksamkeit nicht in erster Linie der Hirnsubstanz. Für ihn spielten die mit Flüssigkeit gefüllten Hohlräume des Gehirns, die sogenannten Ventrikel, die entscheidende Rolle bei der Erzeugung und Verteilung der psychischen Energie. Darüber hinaus legte Galen den Grundstein für die Auffassung, verschiedene Ventrikel bzw. Teile des Gehirns seien für verschiedene Körperfunktionen zuständig.
Diese frühe Variante der Lokalisationstheorie erlebte Anfang des 19. Jahrhunderts eine Aufsehen erregende Renaissance. Beeinflusst von der Idee, dass die geistigen Funktionen eines Menschen allesamt von dessen Gehirn abhängen, entwickelte der deutsche Anatom Franz Joseph Gall die sogenannte Phrenologie. Danach besteht das menschliche Gehirn aus mehreren abgegrenzten »Organen«, an deren Größe und Form man zugleich die Ausprägung einer bestimmten Fähigkeit oder Anlage erkennen kann. Um dies zu belegen, fahndete Gall auf Hunderten von Schädeln systematisch nach Wölbungen, die, wie er annahm, durch die innere Vergrößerung einzelner Hirnorgane entstanden seien. Tatsächlich besaßen die Personen, die er untersuchte, entweder besondere Talente oder fielen durch ungewöhnliche Verhaltensweisen auf: Staatsmänner, Generäle, Mörder, Wahnsinnige sowie Genies in Kunst, Wissenschaft und Philosophie.
Alles in allem ermittelte Gall 27 Hirnorgane, denen er unter anderem folgende Eigenschaften zuordnete: Weisheit, Mut, Freundlichkeit, Stolz, Eitelkeit, Vorsicht, Tatkraft. Neben speziellen Begabungen für Musik, Dichtkunst und Malerei knüpfte er auch den Sinn für Religiosität, den Hang zum Stehlen und Morden sowie einen ausgeprägten Geschlechtstrieb an abgegrenzte Bereiche des Gehirns.
Galls Schüler Johann Gaspar Spurzheim fügte dem Modell seines Lehrers nicht nur acht weitere Hirnorgane hinzu. Er sorgte überdies dafür, dass sich die Phrenologie zur meistpopularisierten »Wissenschaft« des 19. Jahrhunderts entwickelte. 1820 wurde in Schottland die »Edinburgh Phrenological Society« gegründet, die ab 1823 eine eigene Zeitschrift herausgab. Auch in England und später in den USA erreichte die Phrenologie eine Art Kultstatus und hatte zahlreiche Anhänger. Doch alle Versuche, die Schädellehre nach streng wissenschaftlichen Maßstäben zu bestätigen, schlugen fehl. Als Gegenbeispiel führten Galls Kritiker mit Vorliebe Voltaire ins Feld, denn am Schädel des »hochberühmten Ungläubigen und rabiatesten Feindes der Kirche« hatte man ein ungewöhnlich großes Religionsorgan nachgewiesen.
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts begann der Stern der Phrenologie zu sinken. Als Forschungsprojekt geriet sie zunehmend in Vergessenheit. Parallel dazu lehnten immer mehr Mediziner und Naturforscher die Lokalisationstheorie als unwissenschaftlich ab und bevorzugten stattdessen eine holistische Sichtweise des Gehirns. Sie gingen dabei von dem Grundsatz aus, dass das Gehirn anatomisch und funktionell eine Einheit bildet und alle Wahrnehmungen und geistigen Fähigkeiten gleichsam über das gesamte Hirngewebe verteilt sind.
Zwei überraschende Entdeckungen führten erneut zu einem Sinneswandel. Im Jahr 1861 stieß der französische Anthropologe Paul Broca auf eine Region der Großhirnrinde (Cortex), die er als motorisches Sprachzentrum identifizierte. Ist dieses sogenannte Broca-Areal geschädigt, können die Betroffenen nur noch mühsam sprechen und sind unfähig, vollständige Sätze zu bilden. Sie verstehen allerdings zumeist den Sinn dessen, was ihre Mitmenschen sagen. Denn für das Sprachverständnis ist ein anderes Gehirnareal zuständig, das nach seinem Entdecker, dem deutschen Neurologen Carl Wernicke, als Wernicke-Zentrum bezeichnet wird.
Anfang des 20. Jahrhunderts gründete der Hirnforscher Oskar Vogt (der vor allem dadurch bekannt ist, dass er 1925 das Gehirn des verstorbenen Lenin sezierte) an der Universität Berlin ein »Neurobiologisches Laboratorium«. Darin suchten er, seine französische Frau Cécile und weitere Mitarbeiter nach Zusammenhängen zwischen mentalen Phänomenen und hirnanatomischen Strukturen. Einer von Vogts Mitarbeitern war der Neuroanatom Korbinian Brodmann, der 1909 den ersten Atlas zur Zellarchitektur des Gehirns veröffentlichte. Anhand von histologisch ermittelten Unterschieden in der Struktur und Packungsdichte der Zellschichten der Großhirnrinde unterteilte er diese in 52 Felder, die heute als Brodmann-Areale bezeichnet werden. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass man viele der Felder bestimmten Funktionen zuordnen kann. So ist etwa das Areal 22 mit dem Wernicke-Zentrum identisch, die Areale 44 und 45 repräsentieren das Broca-Areal. Bei anderen Feldern gelang eine solche Zuordnung nicht. Die Brodmann-Areale wurden deshalb immer weiter verfeinert, mit dem Ergebnis, dass ihre Zahl auf manchen Hirnkarten inzwischen bei über 200 liegt.
Dank neuer visueller Verfahren wie der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) gab es in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte bei der Kartierung des Cortex. Den bisher detailliertesten Hirnatlas hat jetzt ein Forscherteam um Matthew Glasser von der Washington University Medical School in St. Louis (USA) erstellt. Im Gegensatz zur Brodmann-Karte umfasst er nicht nur die topografische Lage der verschiedenen Areale, sondern auch deren Struktur, Funktion und Vernetzung mit anderen Hirnregionen. Durch diese Erweiterung haben die Forscher mehr Areale gefunden, als es mit jeder einzelnen Eigenschaft allein möglich gewesen wäre.
Der neue Atlas basiert auf den Daten des 2010 gestarteten »Human Connectome Project«, in dessen Rahmen die Gehirne von 210 Frauen und Männern per fMRT gescannt worden waren - im Ruhezustand und bei der Erledigung spezieller Aufgaben wie dem Hören einer Geschichte oder dem Ausführen bestimmter Bewegungen. Weiterhin richteten Glasser und seine Kollegen ihr Augenmerk auf die Dicke der Großhirnrinde, den Gehalt an Myelin, der »weißen Substanz«, sowie auf die Verknüpfung verschiedener aktiver Regionen. Zuletzt entwickelten sie einen Algorithmus, der es ihnen ermöglichte, die Grenzen eines Areals und dessen Verbindungen mit anderen Arealen bei 210 weiteren Personen präzise zu bestimmen.
Wie die Forscher im Fachblatt »Nature« (DOI:10.1038/nature18933) mitteilen, entdeckten sie in jeder Hirnhälfte 180 Areale. Darunter sind 97, die bisher niemand als eigenständige Hirnbereiche identifiziert hatte. Die anderen 83 waren bereits bekannt und wurden erneut bestätigt. »Wir glauben nicht, dass das schon die endgültige Zahl ist«, sagt Glasser, der mit seinen Kollegen vorerst nur die sicheren Areale in den Atlas eingetragen hat. »In einigen Fällen fanden wir Bereiche des Cortex, die wahrscheinlich noch unterteilt werden können, aber anhand der jetzigen Daten und Techniken vermochten wir keine klaren Grenzen zu ziehen.«
Die nahe liegende Vermutung, dass die beschriebenen Areale jeweils nur für eine spezielle Funktion zuständig sind, ließ sich nur in einigen Fällen verifizieren. Ein Beispiel hierfür wäre das Areal 55b, das sich ein Stück oberhalb des Ohrs befindet. Es ist aktiv bzw. wird stärker durchblutet, wenn wir eine Geschichte hören. Die meisten Cortex-Bereiche erfüllen hingegen verschiedene Aufgaben. Sie bilden nach Auffassung der Forscher ein komplexes Mosaik, in dem manche Areale kognitive und sensorische Aufgaben zugleich erfüllen.
Obwohl die neue Gehirnkarte die Lokalisationstheorie untermauert, enthält sie auch deutliche Hinweise darauf, dass diese Theorie nicht zu einem reduktionistischen Gehirnverständnis taugt. Das heißt: Um die Funktionsweise des Gehirns zu begreifen, genügt es nicht, nur die lokalen Wirkungen zu berücksichtigen. Denn wie aus zahlreichen Untersuchungen hervorgeht, sind viele Hirnleistungen sowohl lokal bedingt als auch ganzheitlich vermittelt, werden also von Prozessen beeinflusst, die sich über größere Gehirnbereiche erstrecken. Dieses, wenn man so will, dialektische Grundverständnis der Hirntätigkeit wird durch die neue Studie zumindest ansatzweise bestätigt.
Dagegen führt eine reduktionistische Betrachtung des Gehirns häufig zu recht fragwürdigen Erkenntnissen, wie eine Studie des US-Neurobiologen Simon LeVay belegt. Dieser hatte in den 1990er Jahren festgestellt, dass eine als INAH3 bezeichnete Hirnstruktur bei homosexuellen Männern kleiner ist als bei heterosexuellen. Daraus wiederum schlussfolgerte er, dass sich die sexuelle Orientierung von Männern aus deren Gehirnstruktur ableiten lasse. Heute gilt LeVays Untersuchung, die eine Zeitlang für erhebliche Aufregung bei Schwulen gesorgt hatte, aufgrund gravierender methodischer Mängel als widerlegt.
Das freilich hindert Hirnforscher nicht daran, aus fMRT-Bildern ähnlich gewagte Schlüsse zu ziehen. Um solche Bilder überhaupt generieren zu können, müssen die von einem fMRT-Scanner erhobenen Daten interpretiert werden. Dafür gibt es spezielle Programme, die ein schwedisch-britisches Forscherteam kürzlich auf ihre Tauglichkeit hin überprüft hat. Mit einem schockierenden Ergebnis: Die Software, die in den letzten 20 Jahren bei der Auswertung des fMRT-Datenmaterials großenteils benutzt wurde, liefert bis zu 70 Prozent falsch positive Ergebnisse. Das heißt, viele der im Gehirn gemessenen Aktivitäten waren in Wirklichkeit gar keine. Rund 40 000 Studien, so schätzen die Forscher, sind von dieser »neurowissenschaftlichen Vollkatastrophe« betroffen. Die neueste Untersuchung zur Eingrenzung der Hirnareale bietet bisher keinen Anlass zur methodischen Beanstandung.
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