Weder Verdienst noch Schande

Reinhard Lauterbach erinnert an den sowjetischen Staatssozialismus

  • Karl-Heinz Gräfe
  • Lesedauer: 3 Min.

Das bevorstehende Jubiläum der Russischen Revolution 1917 wirft kardinale Fragen auf: War sie von epochaler Wirkung? Und warum konnten sich die UdSSR und der Staatssozialismus kaum mehr als die Lebenszeit eines Menschen halten? War der Zusammenbruch unausweichlich oder doch abwendbar? Diesen Fragen stellte sich Reinhard Lauterbach (Jg. 1955), Historiker, Slawist und ehemaliger ARD-Korrespondent.

Der Untergang der Sowjetunion 1991 war nicht Resultat einer »friedlichen Revolution« zivilgesellschaftlicher Akteure wie beim Systemwechsel von Berlin bis Budapest 1989. Er entsprang auch nicht einer Willensbekundung der Volksmassen. Vielmehr hatte die Bevölkerungsmehrheit der UdSSR noch im Frühjahr 1990 für den Erhalt des multiethnischen und territorial größten Landes der Erde gestimmt. Lauterbach sieht die Ursachen für das Absterben der Sowjetunion auch nicht in Verrat oder Käuflichkeit des Partei- und Staatschefs Michail Gorbatschow; dafür gäbe es keine Beweise, das seien nur Gerüchte.

Maßgeblich für den Autor war vielmehr die seit März 1986 in der herrschenden Nomenklatura gehegte irrtümliche Annahme, das westeuropäische, vornehmlich das westdeutsche, Gesellschaftsmodell sozialer Marktwirtschaft und parlamentarischer Demokratie in der Sowjetunion übernehmen zu können. Jenes Modell war aber eine Ausnahme im kapitalistischen System, hatte in der Existenz des Realsozialismus seine Voraussetzung. Der rigide Weg Gorbatschows und seiner Mitstreiter, mit mehr Markt und Dezentralisierung aus der tiefen Krise heraus zu gelangen, musste im Untergang der UdSSR enden. Und eine Partei, die sich als die verfassungsmäßige Führungskraft verstand, musste letztlich auch die Verantwortung für das Scheitern ihrer Politik übernehmen, bis hin zur Selbstentmachtung.

Lauterbach analysiert akribisch die unter Gorbatschow mit den Losungen »Perestroika«, »Glasnost« und »Neues Denken« eingeleiteten Veränderungen in der Ökonomie sowie in der Nationalitäten-, Militär-, Sicherheits- und Außenpolitik. Die präzise Beobachtung des Autors sei hier am Beispiel des Abschnittes »Pandoras Büchsenöffner: Glasnost und die Nationalitäten« vorgestellt: Schon die bolschewistische Führung habe dem Nationalismus der Völker Angebote gemacht, statt ihn zu überwinden. Angesichts der aus dem Zarenreich ererbten sozialökonomischen und kulturell-technischen großen Unterschiede zwischen den Völkern waren Transferleistungen der westlichen in die mittelasiatischen Republiken für den Integrationsprozess der UdSSR und den Aufbau des Sozialismus lebensnotwendig. Die in den 1980er Jahren offenkundig werdende Krise forcierte dann bei den »bessergestellten Geberrepubliken« den egoistischen Wunsch nach Separation. Dies wurde dadurch befördert, dass die Mittelumverteilung in den »Nehmerregionen« nicht zu den erhofften Erfolgen geführt hatten und dort wiederum ebenfalls Nationalismus befeuerte, der mehr und mehr clanmäßig-feudale Züge annahm.

Ist durch das Ende der UdSSR der Sozialismus als eine gesellschaftliche Alternative gegenstandslos geworden? War er von Anfang an verfehlt? Laut Verfasser sei nicht bestätigt, dass »zuerst die hoch entwickelten Länder zum Sozialismus übergehen müssten. Die Revolution hat in Russland geklappt und anderswo nicht. Das ist weder ein Verdienst noch eine Schande, sondern eine Tatsache.« Inwiefern sowjetische Erfahrungen noch nützlich seien, wenn »an anderen weltgeschichtlichen Orten noch einmal Menschen ihre Zukunft selbst in die Hand nehmen und eine Gesellschaft ohne Ausbeutung auf die Beine stellen wollen«, überlässt der Autor der Entscheidung künftiger Akteure.

Reinhard Lauterbach: Das lange Sterben der Sowjetunion. Schicksalsjahre 1985-1989. Edition Berolina, Berlin 2016. 300 S., geb., 14,99 €.

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