Hilfe ohne Beipackzettel: Bier, Lektüre und Musik
Thomas Melle verarbeitet in »Die Welt im Rücken« seine manisch-depressive Krankheit
In diesem Buch muss die Fiktion pausieren. Denn Thomas Melle hat sich darin etwas von der geschundenen Seele geschrieben. Der mit zwei Romanen (»Sickster«, »3000 Euro«), einem Erzählungsband (»Raumforderung«) und mehreren Theaterstücken bekannt gewordene Schriftsteller leidet an einer besonders schweren Form der bipolaren affektiven Störung. Früher nannte man das, weniger politisch korrekt, »manisch-depressive Erkrankung«. Und der Betroffene findet diesen veralteten Begriff besser, weil treffender: »Erst kommt der manische Schub, dann die Depression, dann die gesunde Phase. Wenn man sich nicht vorher umgebracht hat.«
Hätte sein Verlag dieses mit »Die Welt im Rücken« betitelte Bekenntniswerk als Roman etikettiert, es wäre mit Manisch-Depressiven bislang kaum in Kontakt gekommenen Lesern schwer gefallen, Melles Text für authentisch zu halten. Denn wie sollte zu glauben sein, dass manische Phasen einen in solchen Großartigkeitswahn treiben, in derartige Paranoia versetzen, in diesen Gefühlsüberschuss stürzen können, wie der 41-Jährige es beschreibt? Schon zu Beginn weiht er sein Publikum in jene Phase ein, in der er fast alle Bücher verkauft hat, die er besaß. Ausgerechnet er, der sich während seines Studiums in Tübingen noch mit einer für Bildungsaufsteiger typischen Überanpassung an das akademische Gehabe abquälte: »Ich wollte ein Streber sein und meinen Bildungsroman leben.«
All die schönen Gesamtausgaben, die er sich zu festlichen Anlässen schenken ließ, und auch beinahe all die anderen foliantenen Nachweise des mühsam angelesenen Intellekts sah er sich jetzt »verschleudern, ohne es eigentlich zu wollen«. Das war 1999, als der erste manische Schub längst im Gange war. Ausgelöst hatte ihn das Internet. Im damals noch neuen Medium setzte er mit einem Freund wirre Texte unter falschen Namen ab - Namen bekannter Literaten, die er verehrt, gegen die er aber insgeheim Neid empfindet. Und dieser Neid trat erst zutage, als er bereits zur Freien Universität Berlin gewechselt war.
Plötzlich war da diese Panik: »Stuckrad-Barre, mein Jahrgang, hatte ein Jahr zuvor sein erstes Buch herausgebracht, dann kam Benjamin Lebert, noch ein Kind, und räumte mit einer Internatsgeschichte ab.« In der Hauptstadt schlich sich Melle bei entsprechenden Anlässen unbeholfen unters Kulturbetriebsvolk, so sehr fühlte er sich zu Christoph Schlingensief, Rainald Goetz oder Christian Kracht hingezogen. Noch bevor die hundertste Seite dieses Buches aufgeschlagen ist, lässt sich ein wichtiger Grund erahnen, warum die genetische Disposition ausgerechnet in jenen Jahren erstmals durchgebrochen sein mag: Ein begabter Student, gerade einmal Mitte zwanzig, wünscht sich sehnlich Anerkennung als Autor. Er will eine Betriebsnudel werden.
Dumm nur, dass er in einem Land aufgewachsen ist, das fast ausschließlich Hochwohlgeborenen den Eintritt in die Welt des hohen Geistes erlauben will. Die logische habituelle Verkrampfung dürfte den Krankheitsverlauf bei Melle beschleunigt haben, denn er blieb fixiert auf große und kleine Stars aus Theater, Malerei, Literatur und Musik. Alles, was ihm medial und scheinreal begegnete, bezog er fortan auf sich. Bei jedem »You« in Popsongs konnte nur er und niemand anders gemeint sein, er sah den längst verstorbenen Michel Foucault im »Prater«, der als Frau verkleidete Hans Magnus Enzensberger nickte ihm verschwörerisch im Bahnabteil zu, er hatte Sex mit Madonna und dem jungen Pablo Picasso schüttete er auf der Toilette im Berliner Szeneclub »Berghain« erbost seinen Rotwein in den Schoß, weil er dessen Bilder noch nie ausstehen konnte.
Inmitten seines Aufstiegs zum gefragten Theater- und zum Suhrkamp-Autor ereilte ihn ab 2006 der nächste manische Schub. Er verwüstete sein Zimmer auf Sylt, wo er als Stipendiat weilen durfte, sammelte im Nachtleben Hausverbote, pöbelte sich durch Premierenpartys, wurde ständig von der Polizei verhaftet oder in Kliniken eingewiesen, aus denen er stets ausbüxte. Medikamente verabscheute Melle, nur in »Bier, Lektüre und Musik« fand er eine »heilende Wirkung«.
Die Depressionen dauerten immer mindestens so lange wie die Manien - einmal sogar länger als ein Jahr. Diese Phasen erschienen ihm nicht als Fühllosigkeit, sondern als permanente Demütigung: »Man kann sich kaum ein schambehafteteres Leben vorstellen als das eines manisch-depressiven Menschen.« Noch immer unzufrieden mit seinem schneckenhaft wahrgenommenen Arrivieren im erlauchten Kreis der Literaten, wollte er sich in den depressiven Zeiten das Leben nehmen. Bis zur nächsten Manie ab 2010, als er bei einer Veranstaltung den Gipsarm seiner Verlegerin Ursula Unseld-Berkéwicz für einen Fake hielt und sie verletzte: »Der Gips war echt. Der Verlag war nicht mehr meiner.«
Was muss es an Kraft gekostet haben, all das durchzustehen? Und was muss es an Kraft gekostet haben, all das aufzuschreiben, bis hin zum minutiös dargestellten Suizidversuch? Seine Bücher und Stücke schrieb Thomas Melle in den gesunden Zeiten nach der Depression und vor der Manie, von der er nie wissen kann, wann sie ihn wieder überfällt. Und in solch gesundem Zustand ist auch dieses Werk entstanden. Dramaturgisch hat der Autor sein sich jeder Gattungsbezeichnung entziehendes Konvolut anekdotisch konzipiert. In kurzen Kapiteln blitzen diese gegensätzlichen Stimmungswelten auf, die ein Bild vermitteln von der Hölle, in der er sich immer wieder wähnen muss.
Stilistisch wiederum verlässt er an kaum einer Stelle seine variantenreich komponierte Nüchternheit, die Sprache ist manchmal trocken-stakkatohaft (»Ich stieg ins Taxi. Peter Gabriel fuhr mich«), bisweilen das Irre wie in Echtzeit veranschaulichend (»Aids dagegen war erfunden, ganz sicher, diese Krankheit gab es nicht«), stellenweise den sarkastischen Selbsthass illustrierend (»Ich sah aus wie Tarantino mit einem Schuss Jabba the Hutt«) und immer wieder in seiner sich jeder Ironie entziehenden Offenheit beeindruckend (»Das Theater ist ja ein einziger Säuferverein«).
So erklärt sich dann auch, weshalb Melle mit diesem großartigen, erschütternden und den Leser durch die Lektüre hingebungsvoll hetzenden Text für den Deutschen Buchpreis nominiert ist, der doch eigentlich den besten deutschsprachigen Roman des Jahres auszeichnen soll. 2011 war Melle bereits mit »Sickster« nominiert, 2014 nochmals mit »3000 Euro«. Deutungen, wonach er als Protagonisten stets Wiedergänger seiner Selbst platziert hat, widersprach Melle jahrelang; hier räumt er ein, dass »sich mein verfluchtes Leben immer in die Literatur gedrängt, die Krankheit sich dazwischen geschoben hat«.
Vielleicht wollte er schon früher die Mauer der Fiktion durchbrechen. Jetzt, da die Memoir-Literatur einen Boom erlebt, kommt »Die Welt im Rücken« umso gelegener. Diesmal wird Melle sicher nicht, wie er über vorangegangene Werke schreibt, bei Lesungen hyperventilieren, weil ihn - ebenfalls typisch für einen Bildungsaufsteiger - die Furcht plagt, als Hochstapler und Scharlatan entlarvt zu werden. Denn diesmal erzählt Thomas Melle ungeschützt und mutig aus seinem Leben, worüber er zur einzig richtigen Quintessenz gelangt ist: »Die eigene Katastrophe auszustellen, hat etwas Aufdringliches; es aber nicht auszusprechen, ist noch verquerer.«
Thomas Melle: Die Welt im Rücken. Rowohlt. 348 S., geb., 19,95 €.
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