Maßloses Vermessen
Lena Tietgen über die Unwissenschaftlichkeit von Intelligenztests
Es scheint geradezu so, dass unser neuzeitliches Wissenschaftsverständnis, das sich nach Descartes auf den Zweifel gründet, sich selbst ad absurdum führt. Es werden hochtechnologische Instrumente entwickelt, mittels derer genetische und neurobiologische Forschung betrieben wird, und Wissenschaftler lassen die Zweifel außen vor.
Im Mainstream der Wissenschaften hat sich leider der positivistische Ansatz des ausgehenden 19. Jahrhunderts durchgesetzt. Nach diesem sind als sicher zu geltende Beobachtungssätze für wahr zu erklären. Mit anderen Worten, nur die Dinge, die empirisch oder rein logisch nachweisbar sind, sind dieser Theorie zufolge wissenschaftlich haltbar; der kritische Geist wurde auf die Laborsituation reduziert. Der Mensch ist das, was die Messung ergibt.
Dieses Denken hatte und hat fatale gesellschaftliche Folgen. Gemessen wird in der Regel der Wert des Menschen, seine Leistungsfähigkeit gilt als Paradigma. Deutlich wird das an den Intelligenztests, die eine bestimmte Fähigkeit in einer bestimmten Umgebung in einer bestimmten Situation messen - wohl wissend, dass diese Fähigkeit nur in bestimmten Umgebungen und in kommunikativen Situationen überhaupt entfaltet werden kann. Damit führt sich Wissenschaft ad absurdum.
Unter der Hand werden die Ergebnisse von Intelligenztests jedoch genutzt, vielleicht auch gebraucht, um Handlungen, Zuschreibungen oder etwa die Schulwahl eines Kindes zu begründen. Das Vermessen von Intelligenz ist also keine wertfreie Wissenschaft.
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