Das neu erfundene Rad
Chemienobelpreis für drei europäische Forscher, die Moleküle mit Maschinenfähigkeiten entwickelten. Von Steffen Schmidt
So manch einer hätte im Fach Chemie vermutlich auf ganz andere Preisträger gewettet. Das Medienunternehmen Thomson Reuters, das die größte Datenbank wissenschaftlicher Zitierungen betreibt, hatte in den letzten beiden Jahren jeweils zwei der Erfinder des CRISPR-Cas-Verfahrens zur Bearbeitung von Genen auf seiner Liste. Doch womöglich sind die Nobeljuroren nicht so begeistert von dem aktuellen Medien-Hype um dieses Verfahren.
Denn sie entschieden sich stattdessen für ein Feld, das nach anfänglichem Rummel wieder weitgehend aus den Schlagzeilen verschwunden ist: die Nanotechnologie. Jean-Pierre Sauvage, J. Fraser Stoddart und Bernard L. Feringa werden für ihre Arbeiten über »Design und Synthese molekularer Maschinen« ausgezeichnet, wie es in der Begründung der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften in Stockholm heißt. Sauvage sieht die Arbeit der drei als »das Herz der Chemie«, weil es ihnen um die Schaffung dynamischer Moleküle gehe. Der inzwischen emeritierte Professor der Universität Straßburg hatte das Forschungsfeld 1983 begründet, als es ihm gelang, mit Hilfe eines Kupferions zwei Ringmoleküle so zu verbinden, dass sie gewissermaßen als Gelenk funktionierten. Die Ringe in diesem sogenannten Katenan sind wie Glieder einer Kette mechanisch verbunden, nicht durch die sehr viel festere chemische Bindung.
Sein an der Northwestern University in Evanston (US-Bundesstaat Illinois) forschender schottischer Kollege Stoddart verband gleichfalls zwei Moleküle rein mechanisch: Er fädelte ein Ringmolekül auf ein stabförmiges und verriegelte dessen Enden, indem er dort zwei dickere Molekülteile ankoppelte. Beide hatten nun molekulare Systeme, deren Teile frei beweglich waren.
Sara Snogerup Linse, Vorsitzende des Nobel-Komitees für Chemie, erinnerte in einem Interview daran, dass sich Atome und Moleküle ja in der Regel ungerichtet bewegen. Doch als Teile einer Maschine sollten sie sich gerichtet, kontrolliert bewegen können. Und das gelang unabhängig voneinander Stoddart und Sauvage im Jahre 1994. Bei Stoddarts »Rotaxan« genannter Stab-Ring-Kombi konnte der Ring wie der Kolben eines Motors hin- und hergleiten. Sauvage schaffte es, einen seiner Katenanringe in Rotation zu versetzen. In beiden Fällen werden Bindungselektronen im Molekül durch äußere Energiezufuhr (Licht, elektrische Spannung etc.) verschoben.
Sauvages Ringe animierten den dritten im Bunde zu ähnlichen Motormolekülen. Der Niederländer Feringa realisierte mit vieren seiner mikroskopischen Nabenmotoren 2011 sogar ein Nanoauto, das beim Anlegen einer elektrischen Spannung über eine Oberfläche rollte. Etwas praxisnäher könnten Sauvages Versuche sein, eine Art künstlicher Muskelfaser zu realisieren. Eine weitere vielversprechende Richtung zeigt ein Feld von vielen Nanomotoren, die wie Transistoren in Mikrochips als Schalter arbeiten. Damit könnten neue noch kleinere Speicherzellen für Computer realisiert werden. Diese Forschungsergebnisse der Gruppe um Stoddart kamen beim Fachjournal »Science« 2001 in die Top Ten der »Durchbrüche des Jahres«.
Wenn von Nanomaschinen die Rede ist, wird gern der US-Physiker Richard Feynman zitiert, der 1959 in einem Vortrag die Möglichkeit solcher aus wenigen Molekülen konstruierten Systeme erstmals erwähnte. Feynman präzisierte seine Vorstellungen noch einmal 1984, nicht wissend, dass seine Idee bereits auf dem Weg in die Wirklichkeit war. Allerdings hatte Feynman als technisch versierter Physiker einen ganz anderen Weg zu den Nanomaschinen im Sinn. Er setzte auf Techniken, wie sie in der Mikroelektronik verwendet werden: Aufdampfen von atomdicken Schichten aus Silizium und anschließendes Ätzen geeigneter Strukturen. An eine chemische Synthese dachte er offenbar nicht.
Dank der Chemie sind innerhalb der von Feynman geschätzten 25 bis 30 Jahre zwar inzwischen vielfältige Nanomotoren, Nanoaufzüge und Nanopumpen im Labor realisiert worden, eine praktische Anwendung allerdings steht noch immer aus.
Während Sauvage sich zu künftigen Anwendungen eher vorsichtig äußert, zeigt sich das Nobel-Komitee optimistisch. Es vergleicht in der Begründung der Preisverleihung die Situation der Nanomaschinen mit dem Stand der Elektrotechnik 1830. Das elektrodynamische Prinzip war bekannt, doch all die grundlegenden Veränderungen, die mit der Elektrifizierung einhergingen, waren selbst für die größten Fantasten nicht vorhersehbar. Für die Nanomaschinen allerdings gibt es heute schon so manche Vision. »Stellen Sie sich winzige Roboter vor, die Ärzte künftig in Ihre Venen spritzen, um nach einer Krebszelle zu suchen«, hieß es etwa von der Nobelpreis-Jury. Der US-Wissenschaftler Eric Drexler, der seit den 1990er Jahren für die Nanotechnologie wirbt, entwarf gar die Vision von sich selbst reproduzierenden Nanorobotern als automatischen Reparaturbrigaden im Körper. Eine Journalistenfrage in diese Richtung beantwortete Nobel-Jurorin Snogerup Linse lakonisch: »In diesen Molekülen ist nichts, was sie befähigt, sich selbst zu reproduzieren. Außerdem sind sie von Energiezufuhr abhängig. Wenn sie etwas tun sollten, was wir nicht wollen, schalten wir die Energiezufuhr ab.«
Kommen wir noch einmal auf die eingangs erwähnten Gentechniker zurück. Die befinden sich nun seit längerem in einem erbitterten Patentstreit, was vermutlich weniger an den Wissenschaftlern als an den beteiligten Unis und Firmen liegt. Die jetzt geehrten Chemiker haben zwar neben zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen auch etliche Patente vorzuweisen, doch statt juristischer Querelen dominierte über Jahrzehnte die kollegiale Zusammenarbeit. Bleibt die Frage, ob sich das ändert, sobald sich ein ähnlich großes Geschäft abzeichnet wie bei CRISPR/Cas.
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