Patt für »Pinguine«

Auch nach zehn Jahren Mitte-Links-Regierung in Chile ist das Bildungssystem des Landes eines der ungerechtesten weltweit. Von Benjamin Beutler

  • Benjamin Beutler
  • Lesedauer: 4 Min.

In Chile muss die Hoffnung auf ein gerechtes Bildungssystem weitergeträumt werden. »Wir waren nicht in der Lage, der Gesellschaft zu erklären, was Entkommerzialisierung der sozialen Rechte, besonders in der Bildung, in Wirklichkeit bedeutet«, zogen Camila Rojas und Víctor Orellana jüngst in einem Zeitungskommentar Bilanz. Die Vorsitzende des schlagkräftigen Studentenverbandes der Universidad de Chile (FECh) und der bärtige Linksintellektuelle wissen, wovon sie reden. Nicht weniger als zehn Jahre des Kampfes für ein starkes öffentliches und gerechtes Bildungssystem liegen hinter ihnen und Hunderttausenden junger Chilenen. Die geballte Macht des privaten Unternehmertums - Ergebnis des neoliberalen Turbo-Kapitalismus unter Diktator Augusto Pinochet - hat dafür gesorgt, dass Chiles Bildungssystem bis heute als eines der weltweit ungerechtesten gilt.

2006, im Todesjahr des Ex-Diktators, hatte die »Revolution der Pinguine« - so getauft wegen der meeresblau-schwarz-weißen Schuluniformen an Chiles Schulen und Universitäten - Straßen und Plätze des Landes mit seiner Forderung für ein kostenloses Bildungssystem überschwemmt. Zum »Pinguin«-Geburtstag sind Rojas und Orellana ernüchtert. »Wir werden das Land nicht verändern, wenn wir nur die Ungerechtigkeiten aufzählen«, resümieren die beiden Mitglieder des marxistischen Studentenbündnis Izquierda Autónoma strategische Fehler. Die Verteidiger des Geschäfts mit der Bildung hätten die Forderung der Pinguine nach kostenlosem Lernen geschickt aufgenommen und in eine staatliche Subvention für ihre privaten Lehranstalten umgewandelt.

Die Regierung von Präsidentin Michele Bachelet habe mit ihren Reformen im Schulwesen und Hochschulsystem weder eine Transformation des neoliberalen Modells noch der Gesellschaft bewirkt. Zwar würden viele Studenten in Zukunft ein etwas ruhigeres Leben führen, ohne Schuldenlast und Bankendruck, gestehen Rojas und Orellana ein. Doch habe das neoliberale Erbe der Pinochet-Diktatur in den zwei Amtsperioden der Sozialistin Bachelet (2006-2010 und seit 2014) in seinen Strukturen bestenfalls leichte Kratzer abbekommen. Nicht nur die Schere zwischen Arm und Reich klafft beim einstigen »Musterschüler des Washington Consensus« weiter auf Rekordhöhe, nur wenige profitieren von Wirtschaftswachstum und gesunden Wirtschaftsdaten. Auch das privat finanzierte Elite-Bildungssystem wurde trotz jahrelanger Proteste von Schülern, Studenten, Eltern und Dozenten bestenfalls mit Samthandschuhen angefasst. Laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) bleibt ein Studium in Chile im Industrieländer-Vergleich nur noch in den USA kostspieliger. Auch ist der Anteil der privaten Ausgaben für Bildung mit 60 Prozent der Gesamtausgaben weiter doppelt so hoch wie im OECD-Schnitt.

Die aus mehreren Gesetzespaketen bestehende Bildungsreform wird an diesen Schräglagen wenig ändern. Die Kinderärztin Bachelet, zerrieben im Streit zwischen Studi-Politstars wie der ins Parlament eingezogenen Aktivistin Camila Vallejo und Strippenziehern der Wirtschaftslobby, hat lediglich an den Symptomen des durchprivatisierten Systems herumgedoktert. Ein bunter Maßnahmenstrauß soll den Bildungszugang gerechter machen. So dürfen Schulen ihre Schülerschaft nicht mehr selbst auswählen, was Eliteschulen und Ausgrenzung von Kindern aus einfachen Verhältnissen verhindern soll. Der Einfluss zahlungskräftiger Eltern bei der Schulplatzvergabe wurde reglementiert, die Möglichkeit horrender Spenden, eine indirekte Bestechung von Schulleitern, wurde mit Einführung eines Limits beendet. Auch fließt heute deutlich mehr Geld in das öffentliche Schulwesen als noch unter Präsident Sebastián Piñera. Der Milliardär regierte das 18-Millionen-Einwohner-Land von 2010 bis 2014 im Managerstil, als ab 2011 die zweite große Welle der Studentenproteste über die Republik rollte.

Für neue Uni-Streiks und Straßenkämpfe zwischen wütenden Studenten und prügelnden Carabineros-Militärpolizisten sorgte zuletzt die Reform des Hochschulgesetzes. Laut dem Parlament vorliegenden Entwurf soll zwischen staatlichen und privaten Unis eine Art bildungspolitischer Burgfrieden geschafft werden. Dass private und öffentliche Hochschulbildung im Gesetz koexistieren, das geht Kritikern von links nicht weit genug. Die Hauptforderung der Studentenbewegung - der universelle kostenfreie Zugang zum Studium - soll über die Einführung eines neuen Hochschul-Finanzierungsrahmens garantiert werden. Neben den 25 staatlichen Hochschulen erhalten künftig auch nicht-staatliche Universitäten öffentliche Gelder, wenn sie bestimmte Leistungschecks bestehen, keine reinen Profitunternehmen sind und ein Gratisstudium anbieten. Ein kostenloses Studium erhalten Studenten aller Familien, die zu den sechs ärmsten Zehnteln der chilenischen Einkommenspyramide zählen. Den Wildwuchs von Privatunis mit horrenden Unigebühren und dubiosen Abschlüssen will das Bildungsministerium über eine staatliche Registrierungspflicht und Qualitätsstandards in den Griff kriegen. Staatsunis sollen finanziell und personell besser ausgestattet werden, legt eine im Gesetz verbriefte strukturelle Privilegierung gegenüber den Privaten fest.

Bildungsministerin Adriana Delpiano wirbt darum um Geduld und sieht das Land auf dem richtigen Weg: »In fünf Jahren werden wir dank der verschiedenen Elemente der Bildungsreform signifikante Veränderungen in der akademischen Qualität sehen«. In Schulen und Unis würden schon jetzt 1,8 Millionen Kinder und Jugendliche, rund 33 Prozent aller Schüler und Studenten, von Gratisbildung profitieren. In einer jüngsten Umfrage hatten 56 Prozent der Befragten die Bildungsreform als »überwiegend negativ« abgeurteilt.

Ein Erfolg der »Pinguine« aber ist unbestreitbar: Sie haben es geschafft, die seit dem Ende der Pinochet-Diktatur als apolitisch abgeschriebenen Jungchilenen endlich wieder für Politik zu begeistern.

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