Das große Ja
Erinnerungen an den Schriftsteller Ronald M. Schernikau, der vor 25 Jahren gestorben ist. Von Stefan Ripplinger
Jede Zeit ist auf ihre Weise die schlimmste. Die Zeit, in der ich den Schriftsteller Ronald M. Schernikau kennenlernte, die frühen 1980er Jahre in Westberlin, war eine schlimme Zeit. Mit der Knute verteidigte Innensenator Heinrich Lummer von der CDU das Recht auf Eigentum gegen eine Schar von Hausbesetzern. Die Stadt machte einen abgehängten, elenden, dumpfen Eindruck. Überall roch es nach feuchtem Staub und überkommenem Preußentum. Arm war Westberlin und nicht im mindesten »sexy«.
Noch klang eine vage Politisierung nach, aber sie befand sich bereits im Übergang in jenes prosperierende Alternativmilieu, das sich als wahre Mitläufermanufaktur erweisen sollte. Gedacht und etwas gemacht wurde buchstäblich im Dreck. Künstlerinnen und Künstler klagten nicht über die Armut, sie erklärten sie zur Voraussetzung einer Arte povera, die den Namen verdient. Die Trümmertunten, denen auch Schernikau als Autor und Sympathisant verbunden war, inszenierten ihre trashigen Revuen, bei denen kein Auge trocken blieb. Dann kam Aids.
Schernikau hat früh die Repression gespürt, die in aller Biopolitik liegt. Er spürte sie in den Aufrufen gegen »Promiskuität« und für Enthaltsamkeit, in der sauberen Safer-Sex-Ästhetik. Seine Stellungnahme »fickt weiter!« (1984) widersetzt sich der Jogger-Moral. Der Mann besaß, das zeigte sich nicht zum ersten Mal, seinen eigenen Kopf. Er sprach Dinge aus, die andere nicht einmal zu denken gewagt hätten. Es wurde lustig, wenn er zu meinen Kindergeburtstagen kam. Was mich aber faszinierte: Er schrieb auch so eigensinnig.
Sein Drama »Irene Binz«, das erste Manuskript, das er mir zu lesen gab, war eine Überraschung für mich, aber nicht der Geschichte wegen, die erzählt wird. Es ist die von Schernikaus Mutter, die um eines Mannes willen mit dem Sohn aus der DDR in die BRD geht und, von den Behörden befragt, weshalb sie in unser schönes Land komme, zur Antwort gibt, sie sei »privat« hier. Überrascht haben mich die Form, das Monodrama in Blankversen, die Jamben, die strenge Fügung, das »heilig Nüchterne«, wie es bei Hölderlin heißt und das hier ein sozialistisch Nüchternes ist.
Eine solche Form wurde im Westen nirgendwo praktiziert. Aber auch im Osten, wo sich manche Dichter, etwa Schernikaus Mentor Peter Hacks, traditioneller Mittel bedienten und eine trockene, schmucklose, allen Schrecken zum Trotz optimistische Schreibweise beheimatet war, wäre dieser Text unmöglich gewesen. Er wurde dann auch nicht gedruckt, weder im Westen noch im Osten, so wie fast alles, was Schernikau damals schrieb. Er hat sehr darunter gelitten, er beneidete einen Freund darum, der stöhnte, er müsse nun die Fahnen seines neuen Buches Korrektur lesen. Schernikau hätte viel darum gegeben, die Fahnen eines neuen Buches zu korrigieren. Aber Kompromisse schloss er grundsätzlich nicht. Und gegen Enttäuschungen war er abgehärtet.
Schriftsteller war ohnehin nur sein zweitliebster Beruf. Er wäre am liebsten Schlagersänger geworden und hat tatsächlich einmal einen Text für Marianne Rosenberg geschrieben, ein Lied über Ronald Reagan: »Er ist ein Star aus Amerika. / Er ist da, wo er immer war. / Aber was wirklich an ihm brennt, er ist / Präsident!« Das könnte heuer, am 8. November, wieder aktuell werden.
Da seine Schlagerlaufbahn mit diesem einen Lied bereits stagnierte und seine Sachen kaum einer drucken wollte, blieben die »tage in l.« der einzige längere Text, der vor Schernikaus Tod erschien. Der ursprüngliche Titel fasst seine bewegliche Intelligenz besser: »die schönheit von uwe, die losung 43 und der spaß der imperialisten«. Die Losung 43 beinhaltete die »Kampfesgrüße«, die das Zentralkomitee der SED alljährlich und unverdrossen an die Genossen von der SEW (also der kommunistischen Partei Westberlins) schickte. Schernikau fühlte sich von dieser Losung ebenso persönlich angesprochen wie von der Schönheit Uwes.
Mit den »tagen in l.« waren die in Leipzig gemeint, wo er, nach Überwindung erheblicher Schwierigkeiten, Literatur studierte. Matthias Frings’ Biografie »Der letzte Kommunist« entnehme ich, dass sich Schernikau im Osten auch nicht anders verhielt als im Westen. Er war kein Maoist, der mit der Masse, sondern ein Leninist, der ihr vorausdenkt. Belehrend gab er sich deshalb nie, aber so erklärt sich seine enorme Sicherheit. Sein Buch setzt sich fast pointillistisch aus Hunderten kleiner Beobachtungen zusammen. Indizien sammelte er gewohnheitsmäßig. Noch das Allergeringste ging in seine Sammlung ein. Einem Freund und mir schenkte er einmal Böden von Kondensmilchdöschen, deren Verfallsdatum just auf den 40. Jahrestag der DDR fiel. Dass die Molkerei damit ein Zeichen des Untergangs hat senden wollen, unterstellte er nicht. Aber er bezog auch die Indizien ein, die vorerst geheimnisvoll blieben.
Hinter seinen von »tage in l.« ausgebreiteten Beobachtungen lässt sich ein bestechender Gedanke erkennen: Die DDR sei lobenswert gerade wegen ihrer Mängel. Denn was mangelhaft ist, lässt sich verbessern. Die DDR ist das Land in der ewigen Verbesserung. Noch die Unzufriedenheit ihrer Bewohner deutet Schernikau so. Der Kapitalismus dagegen bessert sich nicht, er ändert sich nur und bleibt sich noch in der hektischsten Änderung stets gleich. So brillant dieser Essay ist, kam er weder im Westen noch im Osten gut an. Lediglich die RAF bezog sich in einem ihrer Kommuniqués auf ihn.
Mit »tage in l.« war das Studium abgeschlossen, Schernikau bereitete sich darauf vor, Bürger des Landes in der Verbesserung zu werden, der DDR. Er schrieb an einem Buch, das die schlimme Zeit im Westen abschließen sollte: »legende«. Darin zieht er alle Register. Es ist streckenweise ein greller Pop-, man könnte sagen: Agit-Pop-Roman, streckenweise ein biblischer Text, der collagiert, adaptiert, parodiert, und übrigens alle Meisterwerke einbindet, die liegen geblieben waren, darunter die große »Irene Binz«.
Irene Binz hat gesagt: »Ich kann nur leben, weil die DDR da ist.« Dem Vers hätte auch Schernikau zustimmen können. Als wenige Tage nach seiner Einbürgerung das Land kollabierte, in das er sich hat einbürgern lassen, fragte sich, was es wirklich bedeutet, dass »die DDR da ist«. Zu meinem Erstaunen ließ er sich von dieser Katastrophe, die er als solche immer wieder klar benannt hat, nicht niederdrücken. Im Gegenteil tröstete er seine untröstliche Freundin Gisela Elsner, die den Zusammenbruch des Sozialismus nicht verwinden konnte. Die DDR war für ihn doch mehr als ein historischer Ort, sie war bereits in einem ernsten Sinn Literatur geworden.
Der andern Katastrophe erlag er dann. Noch bis wenige Tage vor seinem Tod arbeitete er fieberhaft an der »legende«, die er gerade noch abschließen konnte. Er starb am 20. Oktober 1991, mit 31 Jahren.
Nun lag das Skript da und wieder wollte es niemand haben, jahrelang nicht, alle großen und mittelgroßen Verlage winkten ab. Endlich entschloss sich der Dresdner Verleger Goldenbogen, der zuvor nur Judaica und regionale Schriften gedruckt hatte, dazu, den monumentalen Roman in sein Programm aufzunehmen. Dank eines Subskriptionsverfahrens, an dem sich die gesamte übrig gebliebene Linke beteiligte, kam das Buch in bibliophiler Ausstattung heraus und fand über die Jahre seine jungen Leser. Wie Rimbaud ist Schernikau etwas für Junge, seinen Schwung, seine Kühnheit, auch seine Strenge, manchmal Härte begreift nur der oder die Junge ganz.
Die vivide Biografie von Frings machte den Menschen und den Autor einem größeren Publikum bekannt. Die Hoffnung des Establishments, auch des »alternativen«, Schernikau könnte nach der »kleinstadtnovelle« (1980) ins Vergessen sinken, war damit endgültig zunichte. Und heute gibt es Tagungen, Aufführungen, Lesungen und demnächst sogar eine kritische Ausgabe. Das ist großartig, mit dem einen Wermutstropfen, dass derjenige, der dieses Aufsehen am meisten geliebt hätte, nicht da ist, um es zu genießen. Und selbstverständlich wäre »legende« nicht sein letztes Wort gewesen, auch wenn das Buch etwas von einer Summa hat.
Was mir stets das größte Rätsel an Schernikau war, ist sein »Ja!« Ich weiß nicht, woher er es nahm. Weder im apathischen Westen noch im unzufriedenen Osten ließ irgendwer dieses inbrünstige »Ja!« hören, schon gar kein Schriftsteller. Es ist nicht die heute allenthalben geübte lasche Affirmation, es ist nicht das vernünftige Sich-Einfügen in die vernünftige Politik. Es ist ein anstößiges »Ja«, eines mit dem Kopf in den Wolken und den Füßen auf dem Boden, es lässt sich nichts bieten und will doch um jeden Preis zustimmen. Dieses dem Verzagten unerreichbare, vorwärtsstürmende »Ja« war es, das Ronald M. Schernikaus Schreiben seinen Drive gegeben hat und das ihn für immer über seine elende Zeit hinaushebt.
Unser Autor schreibt auch in dem von Helen Thein und Helmut Peitsch herausgegebenen Band »Lieben, was es nicht gibt. Literatur, Pop und Politik bei Ronald M. Schernikau«, der demnächst im Verbrecher-Verlag erscheint.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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